21. März 2017

Wolter erklärt Deutschen das Gymnasium

"Zu dumm fürs Gymnasium?" steht über dem Artikel, schon in den ersten Sätzen fließen Tränen. Die zwölfjährige Felicia hat gerade erfahren, dass sie nicht aufs Gymnasium kommen wird, die wochenlange Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung war umsonst. Alles bricht in diesem Moment zusammen. Aber nicht nur für Felicia. Auch ihre Mutter, die wie sie aus Deutschland kommt, sinkt auf einen Stuhl und beginnt zu weinen.
Ab der siebten Klasse in sechs Jahren zur Matura, Bild: Nino Gloor
In der Schweiz gehen nur die Besten aufs Gymnasium, Süddeutsche Zeitung, 21.3. von Charlotte Theile

Die Szene stammt aus einem Übungstext, der vor einigen Wochen am Zürcher Gymnasium Rämibühl geschrieben wurde. Tabea und Jael, 16 Jahre alt, haben darin die Geschichte einer guten Freundin verarbeitet. "Uns ist aufgefallen, dass die deutschen Eltern anders sind, wenn es um das Gymnasium geht", sagt Tabea. "Da gilt fast die Gleichung: Wer nicht aufs Gymnasium geht, ist dumm." Im Kanton Zürich, wo Tabea und Jael leben, ist die Situation eine andere: Hier treten nur 15 Prozent aller Sechstklässler das sogenannte Langzeitgymnasium an. Dahinter steht ein Schulsystem, wie es viele noch von früher kennen. Es wird stark ausgesiebt, nur die Besten gehen aufs Gymnasium.

Stefan Wolter ist Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern und Direktor der Schweizer Koordinationsstelle für Bildungsforschung. Er hat schon oft versucht, den Deutschen das Schweizer Bildungssystem nahezubringen. Er glaubt: Wenn die Hälfte eines Jahrgangs Abitur macht, kippt etwas. Nicht dabei zu sein, wird dann zum Stigma. In der Schweiz sei die Aufgabe des Gymnasiums anders definiert, sagt Wolter: "Es dient der Vorbereitung auf das Studium." Dass jemand, der Matura habe, nicht auf die Hochschule gehe, komme praktisch nicht vor.

Schule Das achtjährige Gymnasium verdient eine Chance
Daraus ergebe sich auch ein anderer Blick auf diese Schule. Sie soll konzentriert und wissenschaftlich sein. Wolter nennt als Beispiel das Fach Psychologie und Pädagogik. "Es soll nicht so sein, dass man einfach angeregt über Freud diskutiert." Das sei eine schlechte Vorbereitung. "Wenn die Schüler erst an der Universität zum ersten Mal begreifen, dass zur Psychologie vor allem Stochastik und Statistik gehören, ist das falsch." Das heißt: Schon Schüler sollen sich durch Statistik quälen.

Mit diesem starken Uni-Bezug habe das Gymnasium auch Nachteile, sagt Jael. Sie kann gut verstehen, wenn Gleichaltrige nicht bereit für "so viel Stress", für Leistungsdruck und Deadlines sind. An der Sekundarstufe, die vergleichbar mit einer Gesamtschule aus Real-und Hauptschule ist, sei die Atmosphäre "familiärer und persönlicher", glaubt Tabea. Neben dem Langzeitgymnasium gibt es andere Wege zur Matura, in Zürich zum Beispiel können Schüler auch später noch über das Kurzzeitgymnasium zur Hochschulreife kommen. So kommt es, dass in dem Kanton am Schluss nicht nur 15, sondern etwa 20 Prozent eines Jahrgangs Matura machen.

In Deutschland ist das Schulsystem durchlässiger, doch für viele Eltern und Schüler zählt nur das klassische Gymnasium. Die Fragen, welche Schule wie viel Leistung fordern darf und wie viele Jahre zum Abitur führen sollen, beschäftigen das ganze Land. Wenn sich deutsche Eltern beschweren, ihr Kind werde durch den Stoff gehetzt und könne ihn nur dank teurer Nachhilfe bewältigen, dann zuckt der typische Schweizer mit den Schultern und denkt bei sich: Dann ist das Kind ja wohl auf der verkehrten Schule. Das hohe Niveau der Gymnasien wird ebenso wenig infrage gestellt wie der Wert anderer Bildungsabschlüsse. Manche Deutsche, die grenznah in der Schweiz wohnen, ziehen es deswegen vor, ihr Kind in Deutschland zum Gymnasium zu schicken.

Stefan Wolter versteht das: "Wenn man nicht in der Schweiz bleiben will, kann es sinnvoll sein, ein deutsches Gymnasium zu besuchen." Denn in Deutschland fragen auch viele Lehrstellenanbieter nach der Hochschulreife. Sie wissen nicht um die Unterschiede und unterschätzen den Berufsbildungsabschluss der Sekundarstufe. Umgekehrt wechselt es sich leichter: Wer mit einem deutschen Abitur in der Schweiz studieren will, stellt fest, dass fast alle Fächer ohne Numerus Clausus auskommen.

Wie weit man dann gelangt auf diesem Weg, ist fraglich. Wolter, seit 20 Jahren im Erziehungsausschuss der OECD tätig, sagt: "Ein Schweizer Durchschnittsabiturient ist einfach besser als ein deutscher Durchschnittsabiturient." Die einen seien gut auf Schweizer Universitäten vorbereitet, die anderen hätten aufgrund ihres vergleichsweise mittelmäßigen Abiturs eher schlechte Chancen.

Der Bildungsexperte führt die Entwicklung in der Schweiz auf eine historische Besonderheit zurück: Die 68er-Bewegung habe in dem Land keine besondere Rolle gespielt. Deshalb sei auch ihre Forderung, die Universitäten für möglichst viele Menschen zu öffnen, weitgehend folgenlos geblieben. Bis heute beschreiten Schweizer Jugendliche klar abgegrenzte Ausbildungswege. Im Gymnasium Rämibühl fragen sich Lehrer, ob sie streng genug aussieben. Dass jemand "einfach nicht auf das Gymnasium gehört", ist hier ein normaler Satz.

Der schwache Widerhall der 68er-Unruhestifter geht mit einer konservativen Grundgesinnung einher. Auch in der Schweiz werden Bildungsreformen ausgearbeitet und den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt - wo sie leicht an der Vorliebe für das Bewährte und Bekannte scheitern. Außerdem entscheiden die 26 Kantone, die zum Teil nur einige Zehntausend Einwohner haben, eigenständig, wie sie die Bildung organisieren wollen. So blieb der Status quo, nur die besten Schüler aufs Gymnasium zu lassen, über die Jahrzehnte erhalten.

Schule Demokratische Schulen: Lernen im Ameisenhaufen
Eine Umfrage aus dem Jahr 2015 zeigt sogar: Viele Schweizer finden, die Maturitätsquote, die im Durchschnitt der Kantone bei 20 Prozent liegt, sei zu hoch. Noch in den Siebzigerjahren betrug sie nämlich weniger als zehn Prozent. Die Verdoppelung hat einen einfachen Grund: Vor 40 Jahren war das Gymnasium vor allem Jungen vorbehalten. Inzwischen lernen dort mehr Mädchen als Jungen.

Stefan Wolter glaubt an die trennscharfen Angebote: Sie würden den Schülern in ihren Neigungen gerechter als eine Schule, die irgendwie für die schlauere Hälfte der Bevölkerung da sei. Es gebe viele Schweizer Schüler, die auf dem Gymnasium locker mithalten könnten, sich aber bewusst für eine Ausbildung entscheiden würden. "Wenn Sie dann mit 17 eine abgeschlossene Banklehre haben und noch einen Bachelor draufsetzen, stehen Ihnen mit Anfang alle Türen offen."

Schülerinnen wie Felicia, die in den Vornoten umgerechnet eine Zwei plus hatte, ist das schwierig zu vermitteln. In der Westschweiz oder im Kanton Basel Stadt, wo 30 Prozent eines Jahrgangs die Matura ablegen, wäre das Mädchen aus Deutschland vermutlich ohne Selbstzweifel und Tränen aufs Gymnasium durchgewinkt worden.

Inzwischen hat es auch im Kanton Zürich geklappt, erzählen Tabea und Jael. Ihrer Freundin Felicia ist der Sprung an ein Kurzzeitgymnasium gelungen. Sie sei "überglücklich", noch mehr aber ihre Eltern. Bei einer Lehre würden die sie wohl auch unterstützen, glauben die Mädchen, "aber wahrscheinlich nicht so stark".


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen