23. April 2017

Die unbeugsamen Thurgauer

Der Weg nach Sirnach führt an grünen Hügeln vorbei durchs Murgtal im Hinterthurgau. Dort hinten im Dorf steht Urs Schrepfer in seinem Büro neben dem Sekundarschulhaus. Mit seiner Hornbrille und dem akkurat frisierten Haar wirkt er gar nicht wie ein Polterer.
Doch das, was er sagt, bringt Politiker in der ganzen Schweiz in Wallung: «Unsere Primarschüler sollen nur noch Englisch lernen.» Er sagt es mit einem Lächeln, aber mit verschränkten Armen vor der Brust. Für Schrepfer, Schulpräsident, Schulleiter, Sekundarschullehrer und SVP-Kantonsrat in Personalunion, ist diese Forderung nicht verhandelbar.
Berset will die Deutschschweiz zum Primarfranzösisch zwingen, Bild: Ian David Marsden
Frühfranzösisch: Die unbeugsamen Thurgauer, NZZaS, 23.4. von Anja Burri

Vor gut zehn Jahren kämpfte er noch dafür, dass die Thurgauer Primarschüler Französisch und Englisch lernen. Heute sei er ernüchtert. Zwei Fremdsprachen seien zu viel. Urs Schrepfer weiss, dass seine Worte in der übrigen Schweiz und ganz besonders beim Westschweizer Bundesrat und Kulturminister Alain Berset schlecht ankommen. Doch das scheint ihn kaum zu beeindrucken. «Herr Berset soll am besten einmal zu uns kommen und hier selber längere Zeit Französisch unterrichten», sagt er.

Der Bundesrat hat im fernen Bern den Sprachenunterricht zur Frage des nationalen Zusammenhalts ausgerufen. Es komme nicht infrage, dass die Primarschüler nur Englisch lernten, sagt er immer wieder. In der viersprachigen Schweiz sei es wichtig, dass man sich gegenseitig verstehe. Berset beruft sich auf die Bundesverfassung und hat angekündigt, er wolle die Kantone im Notfall zum Frühfranzösisch zwingen.

Die kantonalen Erziehungsdirektoren bringt diese Drohkulisse in eine ungemütliche Lage. Sie wollen eine Einmischung unbedingt verhindern. Denn die Bildung ist eine der letzten Bastionen der kantonalen Hoheit. Provoziert der Thurgau den Bundesrat zu einem Eingreifen, ist diese Unabhängigkeit dahin. Zudem könnte dies anderswo den Protest gegen den mühsam ausgehandelten Sprachen-Kompromiss – dass die Primarschüler neben einer zweiten Landessprache auch Englisch lernen – anheizen.

Beim Streit um den Fremdsprachenunterricht geht es also nur noch am Rande um Pädagogik. Er ist zu einer hochpolitischen Angelegenheit geworden. Und mittendrin steht ein Kanton, der sonst selten im Rampenlicht ist. Der Thurgau. Der Kanton am nordöstlichen Zipfel der Schweiz gibt sich unbeugsam.

Vor wenigen Tagen bestätigte eine Parlamentskommission den Entscheid des Grossen Rats von 2014, das Frühfranzösisch abzuschaffen. Das ist angesichts des drohenden politischen Kollateralschadens bemerkenswert. Die Thurgauer Kinder sollen später, dafür intensiver Französisch lernen. Am Ende, so glaubt man hier, könnten die Schüler so gut Französisch wie anderswo. Die Rolle des frühen Französischunterrichts für den nationalen Zusammenhalt sei überbewertet, heisst es im Bericht der Kommission lapidar.
Die Hälfte ihrer Mitglieder sind selber in der Bildung tätig – wie SVP-Mann Urs Schrepfer. Wenn er markige Worte an die Adresse von Bundesrat Berset richtet, geniesst er die Unterstützung eines grossen Teils der Lehrer.

In einer neuen Umfrage des kantonalen Lehrerverbands haben sich 54 Prozent von über 900 Lehrerinnen und Lehrern dafür ausgesprochen, auf der Primarschule nur noch eine Fremdsprache zu unterrichten. Jeder dritte Lehrer, der selber Fünft- und Sechstklässler in Französisch unterrichtet, gab an, die Schüler seien mit zwei Fremdsprachen überfordert.

Englisch ist beliebter

Wie konnten sich die Fronten zwischen dem Thurgau und der nationalen Bildungspolitik nur derart verhärten? Im Thurgau seien viele – das ist der erste Teil der Antwort – immun gegen die staatspolitischen Appelle aus Bern und der Romandie. Pädagogische, praktische Argumente zählen für sie mehr: Nur den welschen Mitbürgern zuliebe eine Sprache früher lernen, das sei keine Option, sagt man hier, zweieinhalb Zugstunden von der Romandie entfernt. Anders als das Französisch ist das Englisch so etabliert, dass es politisch quasi unantastbar ist.

Die Wahrheit ist: Es ist beliebter als die Landessprache Französisch. «Hier ist Englisch einfach wichtiger», ist ein Satz, den viele Politiker und Lehrer mit einem Schulterzucken dahersagen. Der Druck aus der übrigen Schweiz und die vielen negativen Schlagzeilen haben diese Haltung bestärkt. «Warum macht man um uns ein solches Theater, während andere Kantone in Ruhe gelassen werden?», fragen sich viele. Tatsächlich lernen im nahen Appenzell Innerrhoden die Schüler schon lange erst ab der siebten Klasse Französisch – unbehelligt von der politischen Öffentlichkeit der Schweiz.

Für den zweiten Teil der Antwort muss man die Schulzimmer besuchen. Lehrer Christian Fontanive steht in seinem Schulhaus in Bischofszell vor zwölf Viert- und acht Fünftklässlern. Das ist nichts Besonderes im Thurgau: Hier besuchen mehr als die Hälfte der Primarschüler eine altersdurchmischte Klasse. Für den Fremdsprachenunterricht sei dies eine Herausforderung, sagt Fontanive, ein Mann mit 42 Jahren Berufserfahrung.

Die Unterschiede zwischen den Kindern seien dadurch noch grösser. Für gut die Hälfte seiner Schüler ist Deutsch zudem nicht die Muttersprache. «Oft hapert es am Deutschen. Kommen dann noch zwei Fremdsprachen dazu, wird es schwierig.» Fontanive hat sich selber organisiert. Für die Französisch-Lektionen tauscht er die halbe Klasse mit einem Lehrerkollegen. So hat er nur Schüler vor sich, die alle gleich lang Französisch lernen. «Die Französische Sprache gefällt mir sehr», sagt er. Doch mit den vorherrschenden Verhältnissen im Klassenzimmer seien drei Sprachen – Deutsch, Englisch und Französisch – einfach zu viel.

Eine gute Viertelstunde mit dem Bus entfernt, in Amriswil, unterrichtet Josef Brägger. Er ist ein Vorzeige-Französischlehrer. Für seine Achtklässler organisiert er jeweils einen Sprachaustausch mit einer Klasse aus dem Kanton Freiburg. Doch auch er sagt: «So kann es nicht weitergehen mit dem Französischunterricht auf der Volksschule.» Man habe viel zu hohe Erwartungen gehabt. In der Realität brächten viele Schüler, die aus der Primar- zu ihm in die Sekundarschule kämen, zu wenig Französischkenntnisse mit. Brägger ist nicht nur Lehrer, der 58-Jährige sitzt auch für die Grünen im Grossen Rat. Dort trägt er die Verschiebung des Französischunterrichts auf die Sekundarstufe mit.

Die Skepsis gegenüber Frühfranzösisch hat im Thurgau eine lange Geschichte. Zwar beteiligte sich der Kanton bereits 1971 an Schulversuchen für die Einführung ab der fünften Klasse. Vor allem die Lehrkräfte der Mittelstufe, also die Lehrer der betroffenen Fünftklässler, zeigten sich schon damals skeptisch, wie es in der Schulgeschichte des Kantons beschrieben ist. 1988 und 2006 kamen Volksinitiativen zur Abstimmung, die den Fremdsprachenunterricht an der Primarschule verhindern oder einschränken wollten. Beide scheiterten allerdings am Stimmvolk.

Zu wenig Zeit

Anne Varenne ist die Präsidentin des Thurgauer Lehrerverbands. Der Unmut der Lehrerschaft sei seit Jahren konstant, sagt die resolute Frau in ihrem Büro im Kantonshauptort Frauenfeld und legt Zahlen auf den Tisch. Diese zeigen, weshalb der Frust hier stärker ist als in anderen Kantonen.

Im Thurgau haben die Primarschüler weniger Zeit für den Fremdsprachenunterricht als die Kinder im benachbarten St. Gallen, Schaffhausen oder Zürich. Am Ende der sechsten Klasse müssen sie in Englisch und Französisch die gleichen Lernziele erreichen – mit insgesamt rund hundert Lektionen weniger. Das hat mit den grossen Unterschieden der Stundentafeln zu tun: In jedem Kanton sind die Lektionen anders auf die Fächer verteilt, nirgendwo sind die Schulwochen genau gleich lang. Diese Differenzen auszugleichen, wäre sehr teuer.

Dennoch erhielt der Französischunterricht in vielen Thurgauer Schulhäusern ein enormes Gewicht: Die Note der Sechstklässler entschied vielerorts mit, in welche Sekundarstufe ein Kind eingeteilt wurde. Das beliebte Englisch hingegen zählte kaum. Mittlerweile ist Französisch in vielen Schulen kein Promotionsfach mehr.

Doch der Frust mit der Sprache der Liebe ist geblieben. Wenn das Frühfranzösisch bleibe, sagen die Lehrer, brauchten sie mehr Lektionen, um ihre Schüler zu unterrichten. Bildungsdirektorin Monika Knill hat Verbesserungen in Aussicht gestellt. Unter anderem sollen lernschwache Kinder vom Frühfranzösisch befreit werden. Der Sprachfrieden ist nicht mehr gratis zu haben.

Es sei viel falsch gelaufen bei der Einführung des frühen Fremdsprachenunterrichts, sagen auch die, welche sich energisch für das Frühfranzösisch einsetzen. Sie hoffen, dass das Parlament die Abschaffung des Frühfranzösisch in letzter Minute noch abwendet. Am 3. Mai entscheidet der Grosse Rat endgültig. Das Votum dürfte knapp ausfallen – doch die Wahrscheinlichkeit, dass der Thurgau stur bleibt, ist intakt.


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