18. Mai 2017

Angriff auf Landessprache schwächt Zusammenhalt

Wenn die Thurgauer nicht mehr gewillt sind,   Französisch zu lernen, so könnten wir Genfer uns   auch fragen, weshalb wir diesen Kanton noch   per Finanzausgleich unterstützen sollten.   
Angriff auf die Schweiz, Weltwoche, 18.5. von Antonio Hodgers

In einem Land, das so föderalistisch und vielfältig ist wie das unsere, sind es letztendlich nur wenige Aspekte, die das Nationalgefühl ausmachen. Ich würde sagen, es gibt drei Grundlagen, die unsere Kantone zusammenhalten. Die erste Grundlage bilden die Institutionen und die direkte Demokratie, verbunden mit einer Kultur des pragmatischen Dialogs. Die zweite ist der Finanzausgleich zwischen reichen und weniger vermögenden Kantonen, was bedeutet, dass zum Beispiel Genf im Jahr 2016 245 Millionen Franken an Kantone wie den Thurgau bezahlt hat, welcher 225 Millionen Franken erhalten hat. In einer Gemeinschaft ist es normal, dass die Stärkeren den Schwächeren helfen. Die dritte besteht in der aktiven Mehrsprachigkeit. Das heisst nicht bloss, dass es in unserem Land vier Landessprachen gibt, sondern auch, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft sich bemüht, die anderen zu verstehen. Jeder soll sich in seiner Sprache ausdrücken können, was bedeutet, dass jeder die Sprache des anderen zumindest verstehen muss. So funktionieren etwa das eidgenössische Parlament und die Bundesverwaltung. Ich würde dies als «Pakt der Sprachen» bezeichnen.

Symbolische Aspekte
Die Entscheidung des Kantons Thurgau, das Frühfranzösisch abzuschaffen, ist ganz klar eine Verletzung dieses Pakts und demzufolge auch der nationalen Einheit. Diese Entscheidung widerspricht nicht nur dem interkantonalen Konkordat zu diesem Thema, sie könnte auch noch andere Kantone ermutigen, diesen Weg einzuschlagen. Wenn einige ihre Bemühungen reduzieren, wieso sollten es andere nicht auch tun? Und wenn jeder Kanton das Lernniveau für den Erwerb der Landessprachen senkt, werden die Schweizer einander weniger gut verstehen. Und wenn sie einander weniger gut verstehen, werden sie sich untereinander auch weniger solidarisch zeigen. Der Angriff auf den Pakt der Sprachen wird deshalb zu einem schwächeren nationalen Zusammenhalt führen, und Kantone wie Genf werden sich fragen, wozu sie weiterhin jedes Jahr Kantone wie den Thurgau unterstützen sollen.

Man kann über die pädagogischen Argumente hinsichtlich des Lerntempos beim Fremdsprachenerwerb natürlich diskutieren, aber die deutschsprachigen Volksvertreter müssen sich bewusst sein, dass der symbolische Aspekt dieser Auseinandersetzung von grösster Bedeutung ist. Denn was die Romands hier im Grunde zu hören bekommen, ist, dass für gewisse Deutschsprachige die französische Sprache weniger wichtig ist als die englische. Die Thurgauer Behörden sagen den Kindern: «Es ist wichtiger, eine Fremdsprache zu lernen als eine Landessprache; es ist wichtiger, dass du dich mit jemandem austauschen kannst, der in einem weit entfernten Land wohnt, als mit deinen Nachbarn in der Romandie.» In diesem Zusammenhang spricht die Tatsache Bände, dass im Text das Französische als «zweite Fremdsprache» bezeichnet wird .   .   . Im Gegensatz zu dem, was in der Schweizer Verfassung steht, in der das Französische als Landessprache eingestuft wird, degradiert man es hier zur Fremdsprache.
Sollte sich dieser Wandel, den der Thurgau angestossen hat, landesweit durchsetzen, könnte es in der Schweiz nach ein oder zwei Generationen so aussehen, dass de facto das Englische die einzige Landessprache sein wird. Deutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch wären dann nur noch Regionalsprachen. Wenn die englische Sprache die neue Lingua franca in den Diskussionen unter Schweizern wird, wozu noch die anderen Landessprachen erlernen? Das Englische würde dann zur nationalen und internationalen Verkehrssprache. Natürlich blieben durch die Nachbarschaft von Deutschland, Frankreich und Italien diese Sprachen weiterhin interessant, aber ihr Status als Symbol für eine bestimmte Vorstellung von Schweizer Identität würde möglicherweise verlorengehen.

Es ist sehr interessant, dass der Kampf gegen das Frühfranzösisch in dieser Auseinandersetzung hauptsächlich von der SVP geführt wird, einer Partei, die sich brüstet, die patriotischste von allen zu sein. Wie wir jedoch gesehen haben, ist der Angriff auf die französische Sprache nichts anderes als die Herabsetzung eines wichtigen Teils unserer nationalen Identität, also dessen, was unser Land besonders und reich macht. Die SVP vermittelt so den Romands das Gefühl, dass sie zweitklassige Schweizer seien – dass es nicht besonders wichtig sei, sie zu verstehen. Es ist paradox, aber die SVP zieht es offenbar vor, die Kinder so zu unterrichten, dass sie Fremde besser verstehen können als die eigenen Mitbürger.

Abschliessend darf man nicht vergessen, dass sprachliche Veränderungen in einer Gesellschaft zwar langsam greifen, aber dafür nachhaltig. Wenn wir den Dingen jetzt ihren Lauf lassen, wird es sehr schwierig werden, diese Entwicklung wieder rückgängig zu machen. Das Englisch beherrscht als Sprache der Globalisierung unbestreitbar die Welt, und es ist unerlässlich, unsere Jugend so auszubilden, dass sie sich darin zurechtfindet. Aber der Aufbau unserer Nation über die Jahrhunderte zeigt, dass wir vor allem eine Willensnation sind – wenn uns der Wille abhandenkommt, einander zu verstehen, werden wir keine Nation mehr sein.

Antonio Hodgers ist Regierungsrat des Kantons Genf. Er sass von 2007 bis 2013 für die Grünen im Nationalrat.

Aus dem Französischen von Jecqueline Byland-Meier

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