21. Mai 2017

Integration an der Praxis gescheitert

Die Idee, schwierige Schüler in normale Klassen zu integrieren, ist schön. Doch in vielen Schulen funktioniert sie nicht. Die anderen Kinder kommen zu kurz, die Lehrer sind überfordert. Der nächste grosse Bildungsstreit bahnt sich an.
Störenfriede raus, NZZaS, 21.5. von Anja Burri


 Die Lehrerinnen nennen Tobias das «Schüttelkind»: Es vergeht keine Schulstunde, wo der Primarschüler nicht stört. Er bewegt seinen Stuhl permanent von einem Bein aufs andere. Rüttelt nervös an seinem Pult. Wenn er etwas sagen möchte, ruft er es ins Klassenzimmer. Und er steht immer wieder auf, um am Wasserhahn zu trinken. Ein anderes Kind, nennen wir es Sebastian, verzögert den Unterrichtsbeginn nach jeder Pause um mindestens zehn Minuten. Er zettelt Streit mit anderen Schülern an oder kommentiert laut die Anweisungen seines Lehrers. Mia bringt die Ordnung ihrer Klasse durcheinander, indem sie permanent lügt. Mit erfundenen Geschichten schwärzt sie andere Kinder und die Lehrerin an. Silas beisst seine Lehrerin. Thomas wirft sich regelmässig auf den Boden, wenn die Klasse im Kreis sitzt. Regt sich Andreas auf, schlägt er wild um sich. Niemand, nicht einmal seine herbeigerufene Mutter, kann ihn dann beruhigen.

Diese Fälle gibt es alle, nur die Namen wurden geändert. Die Kinder werden von Fachleuten als «verhaltensauffällig» eingestuft. Dennoch besuchen sie den normalen Unterricht in Regelklassen in Kindergärten und Primarschulen im Kanton Zürich. Werner Heiniger unterrichtet in Winterthur eine vierte Klasse. Er kennt ähnliche Situationen aus eigener Erfahrung. «Solche Kinder können den Unterricht kaputtmachen», sagt er.
Tobias, Sebastian oder Mia hätte man bis vor ein paar Jahren noch in eine Kleinklasse oder eine Sonderschule geschickt. Diese Zeiten sind vorbei. Es ist ein gesetzlicher Auftrag, Schüler mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten oder einer Behinderung wenn immer möglich in Regelklassen zu integrieren. Der Fachbegriff dafür heisst schulische Integration. Seit 2004 verpflichtet das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes die Schulen dazu; vielerorts haben die Kantone ihre Volksschulgesetze entsprechend angepasst. Im Gegenzug erhalten die Lehrer Verstärkung durch Heilpädagogen oder andere Fachpersonen.

Die Folge: Kinder, die Probleme machen, werden vermehrt abgeklärt. Erhalten sie den Status Sonderschüler, bekommen ihre Lehrer pädagogische Unterstützung. Experten gehen davon aus, dass heute 10 bis 15 Prozent der Schüler so verhaltensauffällig sind, dass sie behandelt werden müssen. «Es ist tatsächlich so, dass immer mehr Kindern und Jugendlichen ein spezieller Förderbedarf zugesprochen wird», bestätigt Peter Lienhard, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.

Am Rand der Belastbarkeit
Die verhaltensauffälligen Kinder sind nicht die einzigen in den Klassenzimmern, die besondere Aufmerksamkeit benötigen. Auch Kinder mit Lern- und Konzentrationsproblemen sowie fremdsprachige, kriegstraumatisierte und geistig oder körperlich behinderte Schüler sollen gemäss dem Integrationsgedanken Regelklassen besuchen. Hinzu kommt der Anspruch vieler Eltern, dass die Schule sämtliche Defizite ihrer Kinder therapieren soll. Doch laute Störenfriede beanspruchen ihre Lehrer und Heilpädagogen häufig so stark, dass sich diese kaum mehr um Schüler mit anderen Schwächen kümmern können – und schon gar nicht um jene Kinder, denen keine besonderen Bedürfnisse zugeschrieben werden. Am Ende kommen alle zu kurz. Das gilt ganz besonders für Quartiere, in denen viele Migranten und sozial benachteiligte Familien leben und überdurchschnittlich viele Kinder Hilfe beim Lernen benötigen. Dort geraten die Lehrer und Lehrerinnen an den Rand ihrer Belastbarkeit.

In Werner Heinigers vierter Klasse in Winterthur ist das Lerntempo für sechs Kinder zu hoch. Eine Heilpädagogin kommt jede Woche für vier Lektionen und arbeitet mit diesen Schülern. «Das reicht nirgendwo hin», sagt Heiniger. Die meisten dieser Kinder seien nämlich in mehreren Fächern überfordert. Er müsse sich dauernd entscheiden, welche Kinder er vernachlässige. Er wünsche sich Kleinklassen, die früheren Sonderklassen, zurück.

Marion Heidelberger ist Vizepräsidentin des Verbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Aussagen wie die des Winterthurer Lehrers Heiniger hört sie oft. Im Moment beherrsche noch der Streit um den Fremdsprachenunterricht und den Lehrplan 21 die Schlagzeilen, doch Heidelberger sagt: «Die Integration wird das nächste bildungspolitische Erdbeben auslösen.» Sie war jahrelang Lehrerin für integrative Förderung und ist eine Verfechterin der Integrationsidee. Doch so, wie die Integration in vielen Schulgemeinden umgesetzt werde, könne sie nicht funktionieren. Insbesondere die Integration von Sonderschülern sei aufwendig. Es fehlten gute Konzepte, und oft stünden die Ressourcen dafür nicht zur Verfügung, im Gegenteil: Bei der Bildung werde gespart. «Das bedeutet grössere Klassen und immer mehr schwierige Schüler, die integriert werden müssen.» Statt Heilpädagogen engagierten die Schulen in gewissen Kantonen zudem Klassenassistenzen ohne spezifische Ausbildung.

Aufstand der Lehrer
In verschiedenen Kantonen haben die Lehrer begonnen, sich zu organisieren. «Wir haben genug!», schrieben Annemarie Müllener und ihre Kolleginnen aus der Berner Agglomerationsgemeinde Ostermundigen vor einigen Wochen an Bernhard Pulver, den kantonalen Bildungsdirektor. Die Mehrheit der Kinder leide, da auffällige Schüler zu viel Aufmerksamkeit in Anspruch nähmen. 10 bis 15 Prozent der Schulabgänger beendeten ihre Schulzeit mit einem Misserfolg und fänden oft nur mit zusätzlicher Betreuung einen Platz in der Gesellschaft. «Zu viele Lehrpersonen werden krank oder geben ihren Traumberuf frustriert auf.» 806 Lehrer unterschrieben den Brief. Sie fordern eine Erhöhung des sogenannten Betreuungsfaktors: Vom Kindergarten bis und mit der zweiten Klasse brauche es so viele Mittel, dass in Klassen mit schwierigen und lernschwachen Kindern zwei Lehrer unterrichten könnten. Derzeit finden Gespräche mit Regierungsrat Pulver und seinen Mitarbeitern statt. Ob die teuren Wünsche der Lehrer in Erfüllung gehen, ist fraglich. Der Kanton Bern muss sparen. Nach den Sommerferien wird das nächste Sparpaket erwartet. Angesichts solcher Verhältnisse ist es kühn, auf Zusatzausgaben in Millionenhöhe zu hoffen.

Auch in anderen Kantonen wehren sich die Lehrer. Der Verband der Zürcher Mittelstufen-Lehrer traf sich gestern zu einer Klausur. «Für schwierige Fälle wünschen wir uns wieder vermehrt Kleinklassen», sagt Verbandspräsident Harry Huwyler. Zwischen dem gesamten Zürcher Lehrerverband und der kantonalen Bildungsdirektion finden derzeit Gespräche statt, um Lösungen zu finden. In Solothurn oder Graubünden haben die Berufsverbände Umfragen und Forderungskataloge veröffentlicht. Im Grundsatz zweifeln die Lehrer die Idee nicht an, auch schwache oder behinderte Kinder in die Regelklassen zu integrieren. Doch die Art und Weise, wie das geschehe, müsse dringend verbessert werden. In Solothurn will die Regierung mit Vorschlägen reagieren. Es zeichnet sich ab, dass man schwierige Kinder für bestimmte Stunden aus der Klasse nehmen will: Das System der Integration soll nicht abgeschafft, aber doch abgeschwächt werden.

Wie immer, wenn es in den Schulen brodelt, schaltet sich die Politik ein. Nicht nur die reformkritische SVP, auch FDP, BDP oder Grüne versuchen, Einfluss zu nehmen. In mehreren Kantonen fordern die Politiker, dass bei der Integration teilweise zurückbuchstabiert wird. In Basel-Stadt zwingt das Parlament die Regierung, Einführungsklassen, in denen die erste Klasse während zwei Jahren absolviert wird, zu prüfen. Im Aargau muss die Regierung evaluieren, wie schwierige Schüler vorübergehend separat unterrichtet werden könnten. In Zürich verlangt das Parlament eine Überprüfung des integrativen Systems. In Graubünden hat der Grosse Rat beschlossen, Kleinklassen wieder zu ermöglichen. Dieser Streit könnte vor Gericht enden. Die Behindertenorganisation Procap Grischun hat angekündigt, das Recht beeinträchtigter Kinder auf Integration notfalls einzuklagen.

Im Widerspruch zur Wissenschaft
Die Kritik der Lehrerschaft steht im Widerspruch zu den Befunden der Wissenschaft. Forscher geben der Integration viel bessere Noten. «Die bisherigen Befunde weisen alle in eine Richtung: Für Schüler mit Lernschwierigkeiten bringt die integrierte Schulung in einer Regelklasse Vorteile», schreiben die Experten der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in einer Übersicht. Und Schüler ohne besondere Defizite würden in einer integrativen Klasse keineswegs gebremst. In einer Studie aus Bern wurden die Bildungskarrieren von 450 Schülern bis ins Erwerbsleben analysiert. Dabei zeigte sich, dass Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen, die eine Regelklasse besuchten, signifikant höhere Chancen haben, im Arbeitsleben Fuss zu fassen, als ehemalige «Kleinklässler».
Wie kommt es, dass die Wahrnehmung der Lehrer und der Forscher derart auseinandergeht? HfH-Professor Peter Lienhard sieht die Probleme im Schulalltag: «Wenn ich die politischen Gegebenheiten anschaue, dann bin ich teilweise ernüchtert: Vielerorts integrieren Schulen engagiert und erfolgreich. Aber: Eine angemessene Förderung dieser Kinder und Jugendlichen in der Regelschule kostet Geld und braucht Fachwissen. Werden die Bedingungen verschlechtert, zermürbt das die Lehrpersonen und senkt die Förderqualität.»

In diesem Punkt sind sich Wissenschaft und Lehrer also einig: Die Integration ist eine hehre Idee, doch sie wird infrage gestellt durch die Probleme, die sich nun im Schulalltag zeigen. Silvia Pool Maag verfolgt die Debatte deshalb beunruhigt. Als Professorin für Inklusion und Diversität der Pädagogischen Hochschule Zürich vertritt sie die Integration mit voller Überzeugung. Die Integration aller Kinder sei ein grosses und wichtiges Entwicklungsprojekt im Bildungssystem. «Am Ende geht es um die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Menschen mit Beeinträchtigungen umgehen.» Das dürfe nicht die Aufgabe einer einzelnen Lehrperson sein. Integration sei ein Projekt, um das sich Schulhäuser, Gemeinden, Kantone und der Bund gemeinsam kümmern müssten. Nur so gelinge sie.

Die Debatte über die schulische Integration erinnert an den Anfang des Sprachenstreits. Auch diese Idee, alle Kinder möglichst früh eine zweite Landessprache zu lehren, ist im Grundsatz unbestritten. Der Streit entzündete sich an der Umsetzung in den Klassenzimmern. Die Sorgen der Lehrer und Eltern gärten so lange, bis sich die Politik einschaltete. Das Ergebnis: Volksinitiativen und Abstimmungskämpfe sorgen derzeit für verhärtete Fronten. Die Forderungen der Lehrer und politische Vorstösse zur Integration deuten darauf hin, dass der nächste grosse Streit droht.

Die Zürcher Regierungsrätin und Bildungsdirektorin Silvia Steiner will allerdings von einer solchen Lesart nichts wissen. Die Integration sei ein «Dauerthema», keine Revolution. Pauschale Kritik weist Steiner aber zurück: «Eine Lehrperson mit schwierigen Kindern in einer Klasse nimmt immer eine Einzelfallbeurteilung vor. Doch wenn wir das ganze System analysieren, kommen wir zum Schluss, dass sich die Integration gesamtheitlich lohnt», sagt sie. Sie nehme die Lehrer ernst, sie wolle jedoch nicht das System auf den Kopf stellen. «Es gibt Verbesserungsmöglichkeiten, aber es gibt keinen Weg zurück zur Separation. Wir müssen die Schwachstellen verbessern.»

Keine Separation, das gilt auch für Tobias aus Zürich. Sein lärmiges Verhalten war für die Lehrerinnen und die anderen Kinder untragbar geworden. Um ihn in der Klasse zu halten, wählte man eine medizinische Lösung. Tobias nimmt heute Ritalin.


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