20. Juli 2017

Alternativen zu Fakten

Alternativen zu Fakten: Seit Pisa und Bologna setzt die deutsche Bildungspolitik auf Kompetenzen statt auf Bildung. Auf der ersten Inkompetenzkonferenz in Frankfurt formiert sich Widerstand.
Klären Sie Ihre Schreibabsicht, prüfen Sie Ihre Gefühle! FAZ, 12.7. von Thomas Thiel


Die Kompetenzkompetenz gibt es wirklich. Edmund Stoiber hatte sich nur scheinbar verheddert, als er versuchte, die Machtbalance zwischen Nationalstaat und Europäischer Union mit dem juristischen Fachwort sachgerecht zu erklären, was ihm 2006 zehn Minuten unfreiwilligen Ruhm auf Youtube bescherte. Es gibt aber auch die Kompetenzorientierungskompetenz und die Durchhaltevermögenskompetenz. Wer an deutschen Schulen und Hochschulen lehren oder unterrichten will, sollte beides mitbringen. Mit der Bologna-Reform und der Pisa-Vergleichsstudie ist ein Sturm an Kompetenzen über das deutsche Bildungssystem hereingebrochen, der in seinen kuriosen Wortgirlanden auf der ersten Frankfurter Inkompetenzkonferenz Heiterkeit erregte, in seinen Folgen aber besorgte.

Die prominent besetzte und gut besuchte Frankfurter Veranstaltung verstand sich als Kontrapunkt. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann nannte das Kompetenzmodell in seinem Eröffnungsvortrag den bildungspolitischen Sündenfall unserer Epoche. Das war als Kampfansage zu verstehen. In Frankfurt waren Aufbruchsstimmung und Widerstandsgeist zu verspüren. Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbands, zog die Vereinbarkeit des gerasterten Menschenbilds der Kompetenzverfechter mit dem grundgesetzlichen Freiheitsverständnis in Zweifel. Andere wogen die Erfolgsaussichten einer Musterklage ab.

Kompetenz, stellte Liessmann klar, heiße nicht Bildung. Sie ziele allein auf praktisches Wissen, prüfe Studenten auf ihre Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt und gerate, da sie zum Allheilmittel stilisiert werde, zum Gegenteil von Bildung. Das Vorbild sei der Fließbandarbeiter. So wie Arbeitsschritte im industriellen Fertigungsprozess in einzelne Module zerlegt werden, um zu prüfen, ob ein Arbeiter sie bewältigen könne, so werde nun, so Liessmann, der Bildungsweg in Kompetenzschnipsel zerschnitten, bis Person und Geist dahinter verschwinden. Modell stehe hierfür ein nach dem Bild der künstlichen Intelligenz geformter Schubladenmensch, wie die Philosophinnen Bernadette Reisinger und Johanna Gaitsch ausführten, der seinen Dozenten nur noch als Sozialcoach benötige und das Wissen in einem magischen Akt aus sich selbst heraus zeuge. In der Sprache des Kompetenz-Curriculums: Erweitere dein Wissen durch dein eigenes Wissen.

Wer den Wirtschaftsexperten von der OECD die Kompetenzkompetenz gegeben hat, ihre ökonomischen Schemen über die deutsche Bildungspolitik zu stülpen, wäre noch zu klären. Die unbefriedigende Antwort lautet: Faktisch übt sie diese aus, seit sie der deutschen Bildungspolitik erfolgreich eingeredet hat, dass sie dem Erfolgsmodell der dualen Bildung zum Trotz möglichst viele Studenten in kurzer Zeit durch das Bildungssystem schleusen soll. Dafür wurden eine Reihe hochabstrakter Kompetenzen erfunden, die so zerstückelt werden, dass noch der geringste Lernfortschritt objektiv messbar werde. An Schweizer Grundschulen lassen sich laut Lehrplan 4500 Kompetenzen erwerben. Omnikompetenz ist nie erreicht. Das Kompetenzrad lässt sich immer weiterdrehen, perspektivisch kann alles zur Kompetenz werden: Bewegung, Hören, Atmen. Zu den Schweizer Grundschulkompetenzen gehört es beispielsweise, seine Aufmerksamkeit auf sprechende Personen zu richten. Also: zuhören. Doch welcher Schüler träume davon, fragte Liessmann, einmal zuhörkompetent zu werden?

Das Fernziel des Kompetenzmodells ist nach dem Soziologen Stefan Kühl ein europaweiter Bildungskataster, der jede Kompetenz in eine exakte Stufenfolge einordne und dadurch internationale Vergleiche ermögliche. Kühl äußerte jedoch Zweifel, dass sich Niveauunterschiede durch die schwammig formulierten Kompetenzen objektiv feststellen lassen. Lesekompetenz werde beispielsweise nicht an Texten unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade geprüft. Sei der Aufsatz, fragte Johanna Gaitsch, nicht die bessere Methode, Verständnis und Lesekompetenz zu prüfen, als das standardisierte Ausfüllen von Multiple-Choice-Kästchen?

Die rhetorischen Nebelschwaden von der globalen Wissensgesellschaft, deren Wandel man sich in den Augen der Reformer nicht schnell genug vorstellen kann, sorgen für ausreichend Dunkelheit, damit niemand der Reformparole, das Gedächtnis sei ein toter Speicher, der durch Suchmaschinen ersetzt werden könne, auf den Grund geht. Konrad Paul Liessmann wandte ein, er sei selbst nach dem Vergessen von etwas Erlerntem ein anderer als zuvor. Der Mediziner Josef Pfeilschifter, Dekan der gastgebenden medizinischen Fakultät, ergänzte dies um den Hinweis, dass jedes Wissen eine neuronale Spur hinterlasse. Das Gedächtnis sei ein aktives System, das durch Wiederholung und Systematisierung trainiert werden müsse und ohne dies verkümmere.

Fachwissen gilt im Kompetenzmodell jedoch als Bildungszopf, und wo man diesen nicht ganz abschneidet, da verschiebt man ihn in den Curricula immer weiter nach hinten. Ohne Fachwissen, wandte der biowissenschaftliche Fachdidaktiker Hans Peter Klein ein, lasse sich keine komplexe Frage stellen. Großgeschrieben werden dagegen Gefühl, Sozialkompetenz und Lebensnähe. Als den Leseakt vorbereitende Kompetenz gilt es beispielsweise, sich in eine positive Lernatmosphäre zu versetzen und seine Schreibabsicht zu klären. Geschult wird ein gefühltes Wissen, in das gesellschaftspolitische Vorstellungen einfließen. Die Alternative zu Fakten kommt hier aus der Wissenschaft selbst.

Diese Tendenz hat Schulen wie Hochschulen über alle Fächer hinweg ergriffen. Der aktuelle Proband ist die Medizin. Nach dem in Reform befindlichen Studienplan (Masterplan 2020) sollen angehende Ärzte auch auf Empathiefähigkeit geprüft werden. Einfühlungsvermögen ist zweifellos eine wichtige Fähigkeit für den Landarztberuf, den man im Zug der Reform wieder attraktiv machen möchte, und gegen ihre Schulung ist nichts einzuwenden ist, wäre sie nicht, wie Josef Pfeilschifter kritisierte, mit der Bagatellisierung des Fachwissens verbunden. Und nach welchem Kriterium will man Empathiestärke feststellen? Am Feuern von Spiegelneuronen? Laut Pfeilschifter ist das Kompetenzmodell in der Medizin ein politisches Instrument zur Erhöhung der Landarztquote. Beim Schritt in die Praxis werde es jedoch ernst, warnte der Pädagoge Jochen Krautz: Mediziner ohne Fachwissen haben tödliche Konsequenzen.

Treibende Kraft der Kompetenzbewegung sind die Institute für Qualitätsprüfung und -entwicklung. Hier hat laut Hans Peter Klein eine Fraktion von Bildungsdidaktikern die Regie übernommen, die sich vom Fachwissen verabschiedet habe, oft nicht einmal mehr über einen fachlichen Hintergrund oder schulische Erfahrung verfüge. Umso leichter falle es ihr, ihre Kompetenzschablonen von der Biologie bis zur Physik auf fremde Fächer zu pressen. Das Fachwissen wandert an den Rand. Von Bildung, so Klein, sei in den Kerncurricula nicht einmal mehr die Rede. Im Gegenzug werden selbst Mathematik- oder Physikaufgaben mit immer mehr Text angereichert, der in seinem sozialpsychologischen Kauderwelsch eine eigene Form der Verstehenskompetenz erfordert.

Die Beispiele animierten zur Heiterkeit. Schülern der achten Klasse, führte der Mathematiker Hans-Jürgen Bandelt vor, wird vom Berliner Institut für Qualitätsentwicklung etwa die Aufgabe gestellt, ein Fieberthermometer abzulesen. Man wird dies nicht auf den ersten Blick als Physikaufgabe erkennen. Eine nach dem Kompetenzmuster erstellte Biologie-Abiturfrage will von Schülern wissen, was bei der Zählung von Zugvögeln zu Abweichungen führen könne. Eine der richtigen Antworten lautet: Die Ornithologen könnten sich verzählen.

Es stellt sich die Frage, warum ein derart unpraktikables Konzept zum Erfolgsmodell avanciert ist. Warum gab und gibt es so wenig Widerstand unter Lehrern und Professoren? Bernhard Kempen verwies auf das politische Steuerungsinstrument der Drittmittel. Wer sich dem Kompetenzmodell verweigere, müsse Karrierenachteile und Kürzungen hinnehmen oder überstehe, wie Hans Peter Klein anfügte, kein Lehramts-Referendariat. Kempen äußerte aber auch seine Verärgerung darüber, dass der Erfolg des Kompetenzmodells nicht möglich wäre ohne die Mithilfe von Kollegen, die sich gegen ihre Überzeugung einkaufen ließen. Der Pädagoge Andreas Gruschka hielt den Kompetenz-Glauben mittlerweile selbst unter den Reformern für erloschen, was diese aber nicht davon abhalte, ihn weiter zu propagieren.


Dass Widerstand möglich ist, ließ sich in Frankfurt erkennen. Mancher warf schon den Blick in eine Zukunft, in der das Kompetenzmodell aufgrund seiner praktischen Mängel ausgemustert und Bildung neu erfunden wird. Dann freilich unter anderem Namen und als etwas revolutionär Neues. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen