20. Juli 2017

Die Volksschule muss lernleistungsfähig und attraktiv bleiben


Muss die Schule alles tun, tut sie nichts mehr richtig. Wer nicht unter den Bildungsreformen leiden will, weicht an Privatschulen aus. Das bedroht die Kohäsionskraft der Volksschule, meint Carl Bossard.
Den Volksschulen drohen die Kinder abhandenzukommen, NZZaS, 16.7. von Carl Bossard


Addition ist eine der Kennziffern unserer Zeit. Die Devise: mehr und immer mehr. Doch Gewinn ist meist mit Verlust verbunden und Abnahme stets auch mit Zunahme. So lautet das Gesetz der Gegenbuchung. Es gilt auch für das öffentliche Bildungssystem.
Die Volksschule hat in den letzten Jahren viele neue Aufgaben übernommen, vermutlich zu viele. Sie muss integrieren und indi­vidualisieren, sozialisieren und kultivieren, Frühenglisch und Mittelfrühfranzösisch lehren, die hochdeutsche Sprache schulen und mathematisches Können entwickeln. Sie soll in Themen von Natur, Mensch und Gesellschaft einführen, Musisches und Kreatives fördern, ethisches Verhalten bestärken und die Kinder zur Freude an der Bewegung ermutigen – und überdies das Lernen trai­nieren. Alles wird irgendwie wichtig. Darum sind die Lehrpläne dichter und die Lehrmittel dicker geworden. Doch wenn Prioritäten fehlen und das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen geschieden wird, verliert alles an Bedeutung.

Manches ist dazugekommen – weggenommen wurde wenig. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab. Viele Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Unfertiges wird zum Dauer­zustand. Alles ist bekanntlich der Feind von etwas.

Wer addiert, muss reduzieren. Zur Reduktion gehört das Automatisieren zentraler Lernvorgänge. Üben wird geringgeschätzt, sturem Pauken, gar sinnlosem Drill gleichgesetzt und mit einem Bannstrahl belegt. Aus Sicht der Gedächtnispsychologie sind Vertiefen und Anwenden für einen lern­wirksamen Unterricht aber unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren, sagt die Forschung. Genau dazu fehlt die Zeit. Dass jeder Fünfte unserer 15-Jährigen die Schule ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse verlässt, ist schlicht «ein Systemversagen», wie das Stefan C.Wolter, der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, auf den Punkt bringt. Er fügt bei: «Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern können in der Schweiz bei Schul­abschluss zwei bis drei Schüler pro Klasse nur unzureichend schreiben und lesen.»
Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den ­Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und mit­telmässige Schüler sind benachteiligt. Die Diffusionsprobleme steigen. Auch das wissen wir aus der Forschung.
Darum haben viele Eltern das Gefühl: Mein Kind kommt nicht voran. Es wird wohl aktiviert, doch es lernt zu wenig, und das Erarbeitete bleibt an der Oberfläche. Abends müssen wir mit Nachhilfe vertiefen. Die Eltern wollen nicht als Verlierer der Bildungsreformen dastehen. Im Gegenteil: Die Kinder sollen die sozioökonomische Position ihrer Herkunft zumindest halten. Statusängste sind in erster Linie Zukunftsängste. Darum erwarten sie für ihr Kind eine solide Schulbildung. Diese Erwartungssicherheit schmilzt.

Das führt zu einer stillschweigenden Abkehr von der Volksschule und zum momentanen Boom von Privatschulen – primär in wohlhabenden Gebieten und Gemeinden. Allein der Kanton Zürich zählt 165 solcher Institutionen; seit 2010 bedeutet das einen Zuwachs von etwa 20 Prozent. Viele Eltern wünschen homogene Klassen und greifen darum zum Teil tief in die Taschen. Das Schulgeld ist eine Art Segre­gationsprämie.

Noch geniesst die Volksschule breites Vertrauen, doch ihre Kohäsionskraft bröckelt. Die Emigration ist ein Faktum. Die Zahlen zeigen es: Rund fünf Prozent der Schüler in der Schweiz gehen in eine Privatschule. Tendenz steigend. Dadurch geht etwas ­verloren, was unseren Staat stark gemacht hat: die soziale Durchmischung. Auch Bundesräte besuchten die Volksschule.

Das öffentliche Bildungssystem muss lernleistungsfähig und damit attraktiv bleiben. Nur das ver­hindert den leisen Exodus. Eine Rückkehr zum Eigentlichen und Wesentlichen tut darum not. Dazu zählt intensives Üben. Jede junge Geigerin und jeder Junioren­fussballer weiss das; nur in der Schule finden wir es altmodisch. Zu stärken ist auch die Rolle der Lehrperson. Sie ist mehr als nur Lernbegleiterin oder Coach, mehr als Zulieferer von Arbeitsblättern und PC-Programmen. Sie steuert den Unterricht. Wichtig ist ihr eine intensiv und systematisch genutzte Lernzeit; sie findet dazu den notwendigen Freiraum. Das wären zwei zentrale Addi­tionen – und Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen