20. Juli 2017

Zemp fordert mehr Mittel für die Integration

Die Zuwanderung bildungsferner Familien schafft neue Probleme bei der schulischen Integration. Das sagt Lehrerverbandspräsident Beat Zemp im Interview.
"Scham und Zurückhaltung sind der Normalfall", NZZ, 15.7. Interview mit Beat Zemp von Jörg Krummenacher


 Die Integration fremdsprachiger Kinder scheint an Orten wie Wohlen recht gut zu gelingen. Andernorts stellen sich Probleme. Wie steht es insgesamt um die Integration von Zuzügern, wie stark sind insbesondere die Lehrkräfte gefordert?

Lehrpersonen sind nicht überfordert, wenn genügend Ressourcen für die Integration zur Verfügung stehen. Wenn aber Kinder ohne Deutschkenntnisse einfach ins Klassenzimmer gesetzt werden, dann resultiert daraus natürlich eine Überforderung. Wegen der heterogenen Zusammensetzung heutiger Klassen brauchen Lehrpersonen mehr Zeit für Absprachen, für runde Tische mit Fachleuten, für Elterngespräche und vieles mehr. Die Integrationskapazität einer Regelklasse ist beschränkt. Wenn nahezu die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler kein Deutsch zu Hause spricht, brauchen wir zusätzliche personelle Ressourcen, beispielsweise Assistenzen und schulische Heilpädagogen, um einen erfolgreichen Unterricht für alle zu garantieren.

Die Einwanderung ist in den letzten Jahren etwas zurückgegangen – sind dadurch Probleme bei der schulischen Integration entschärft worden?
Leider nein. Durch das neue Phänomen der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden und der spät zugewanderten Jugendlichen sind neue Integrationsprobleme entstanden. Kamen Ende der 1990er Jahre vor allem Kinder und jugendliche Flüchtlinge aus ein paar wenigen Ländern, insbesondere aus Kosovo, ist die Situation heute viel komplexer geworden. Das stellt die Schulen vor neue Herausforderungen.
Derzeit gibt es vor allem Zuzüger aus Südeuropa, insbesondere aus Italien und Portugal. Haben sich dadurch die Herausforderungen bei der Integration verändert?
Es gibt heute auch viel mehr Kinder aus Mischehen, die neben den sprachlichen Schwierigkeiten auch noch einen kulturellen Mix bei der Integration verarbeiten müssen. Dazu kommen Kinder von Expats, die in wissenschaftlichen Berufen tätig sind, und gleichzeitig gibt es mehr Einwanderung in Niedriglohnsegmenten, meist aus bildungsfernen Schichten. Solche Unterschiede sind heute meist relevanter als das Land, aus dem die Zuzüger stammen.
Welchen Einfluss hat denn eine mangelhafte Integration neu zugezogener, bildungsferner Eltern auf die schulische Situation ihrer Kinder?
Diese Eltern kennen unser Schulsystem nicht, sind oftmals total überfordert damit und gehen davon aus, dass sie sich nicht um die Schule kümmern müssen. Oftmals sind sie auch zu wenig leistungsorientiert, was sich negativ auf die schulische Laufbahn ihrer Kinder auswirken kann. Krippen, Spielgruppen und Elternbildungsprogramme müssen daher überall vorhanden sein und weitgehend kostenlos zur Verfügung stehen. Wo beide Elternteile einen oder zwei Berufe ausüben – etwa auf Baustellen, in Restaurantküchen, im Zimmerservice, bei Reinigungsberufen –, ist eine mangelhafte Integration der Eltern durch ihre isolierte berufliche Situation bedingt. Eine bewusste Verweigerung der Integration ist die Ausnahme, Scham und Zurückhaltung wegen fehlender Sprachkenntnisse und fehlender Bildung sind der Normalfall.
Unter den Kantonen herrscht eine Vielfalt an schulischen Integrationskonzepten. Welche haben sich denn im Lauf der letzten Jahre bewährt, welche eher nicht?
Das wüssten wir auch gerne. Nur schon eine Übersicht über die Konzepte fehlt leider weitgehend. Das gilt auch in Bezug auf den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache, den die meisten Kantone an die Schulgemeinden delegieren. Da Kinder mit Migrationshintergrund oftmals, aber nicht immer auch sonderpädagogisch integriert und betreut werden, brauchen wir auch eine Übersicht über die unterschiedlichen Konzepte der Kantone im Bereich Sonderpädagogik. Der Lehrerverband LCH hat deshalb schon 2012, also ein Jahr nach Inkrafttreten des Sonderpädagogik-Konkordats der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz, eine Studie mitfinanziert, um wenigstens über das sonderpädagogische Grundangebot in der Deutschschweiz eine Übersicht zu erhalten. Ich habe in einer Expertengruppe des Bundesamts für Statistik gefordert, die Bildungsstatistik in diesem Bereich auszubauen, was inzwischen geschehen ist. Daher erwarten wir erstmals im Schweizer Bildungsbericht 2018 mehr Übersichten und Analysen für diesen Bereich.


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