21. August 2017

Start in eine neue Volksschule

15 000 Kinder beginnen heute ihre Laufbahn an einer Volksschule, die sich in den letzten Jahren stark gewandelt hat.
Der lange Weg durch die Institution Schule, NZZ, 21.8. von Walter Bernet


 Freude, Neugier und Stolz auf der einen Seite, Spannung, Unsicherheit und Angst auf der anderen: Die rund 15 000 Kinder im Kanton Zürich, die am Montag zum ersten Mal in den Kindergarten marschieren, teilen diese gespaltenen Gefühle mit ihren Eltern. Kommt das gut? Werden David und Lea, Noah und Anna, Leon und Sophia, Liam und Alina – so die häufigsten Namen der heute Vierjährigen – ihren Weg machen?

Es kommt gut, in der Regel. Mit der richtigen Balance zwischen Loslassen und Mitfühlen, mit dem wachsenden Selbstvertrauen der Kleinen und mit einem vertrauensvollen Austausch mit den Kindergärtnerinnen sind anfängliche Leidensphasen bald einmal überwunden. «Die Kinder sind häufig flexibler als ihre Eltern», sagt eine erfahrene ehemalige Kindergärtnerin. Man darf den Kleinen etwas zutrauen.

Eine Schule für fast alle
Das ist keine Behauptung in rein beruhigender Absicht. Dass es in der Regel gut kommt, bestätigt eine Untersuchung der Schulverläufe von rund 2000 Kindern, die im Jahr 2003 in die erste Klasse der Volksschule eintraten. Luca und Laura, Marco und Vanessa hiessen viele Kinder zu jener Zeit, und der Kindergarten lag noch in der alleinigen Verantwortung der Gemeinden. Trotzdem besuchten schon damals 95 Prozent aller Kinder vor dem Schuleintritt zwei Kindergartenjahre. Blockzeiten, Schulleitungen, integrierte Förderung oder Frühenglisch waren noch geplante Neuerungen. Die Umsetzung erstreckte sich über die ganze obligatorische Schulzeit jener Schüler-Kohorte.

David und Lea, Liam und Alina werden also eine in vielem veränderte Schule antreffen. Das beginnt schon im Kindergarten. Er ist jetzt Teil der Volksschule und wie diese kantonalisiert. Zudem sind die Kinder jünger, wenn sie in den Kindergarten eintreten: War der Stichtag für die Einschulung bis 2014 noch der 30. April, so verschiebt sich dieser seither als Folge des Beitritts von Zürich zum Harmos-Konkordat jedes Jahr um einen halben Monat, bis es ab 2020 der 31. Juli bleiben wird. Die jüngsten Kinder werden dann mit wenig mehr als vier Jahren in die Schule eintreten. Schon heute machen die Kindergärtnerinnen eindringlich darauf aufmerksam, dass das Wickeln nicht zu ihren Aufgaben gehöre.

Anders als Luca und Laura, die geburtenschwächeren Jahrgängen angehörten, werden David und Lea ihre Bildungskarrieren in randvollen Kindergärten und Schulhäusern antreten. Die Schülerzahlen nehmen im Kanton Zürich enorm zu. 2015 verliessen 12 Prozent mehr Schüler und Schülerinnen die Volksschule, als 2005 eingetreten waren. Das hat auch mit steigenden Geburtenzahlen zu tun, ist aber wesentlich eine Folge der starken Zuwanderung aus anderen Kantonen und aus dem Ausland. In den Schulen war das in den letzten Jahren an der immer heterogener werdenden Schülerschaft ablesbar.

Diese grosse Heterogenität ist allerdings nicht nur eine Folge der Zuwanderung und – in weit geringerem, aber zum Teil herausforderndem Mass – der wieder angewachsenen Flüchtlingsströme aus anderen Kulturkreisen. Sie ist auch die gewollte Konsequenz der integrativen Förderung und der integrierten Sonderschulung. Aufnahme-, Klein- und Sonderklassen sind fast ganz verschwunden, da die Schulgemeinden dafür keine zusätzlichen Lehrerstellen mehr bekommen. Dafür sind die personellen Ressourcen für die normalen Klassen verstärkt worden.

Der Grundsatz, eine Schule für möglichst alle Kinder zu sein, ist in der Volksschule zwar kaum bestritten, die konkrete Umsetzung aber schon. So ist es nicht leicht zu erklären, warum im Schuljahr 2004/05 2,34 Prozent der Volksschüler eine Sonderschule besuchten, 2015/16 aber 3,91 Prozent. Zwar ist die Zahl der Sonderschüler, die separiert unterrichtet werden, in diesem Zeitraum konstant geblieben, durch die wachsende Zahl von Sonderschulungen im normalen Klassenverband ist die Gesamtzahl der Sonderschüler aber enorm angestiegen. Zurzeit versucht man, die oft lokalen Gründe dafür zu finden und in besonders stark betroffenen Gemeinden geeignete Gegenmassnahmen zu treffen.
David und Lea, Noah und Anna werden die Volksschule 2028 verlassen, wenn alles in geordneten Bahnen verläuft. Danach folgen die Jahre der Berufsausbildung oder noch ein paar Jahre im Gymnasium. Eine lange Zeit, nicht nur für die Kinder und späteren Jugendlichen, sondern auch für die Eltern! Und eine Zeit mit vielen Unwägbarkeiten. Die erwähnte Untersuchung der Schulverläufe zeigt, dass im letzten Schuljahr der obligatorischen Schule 18 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht in der 3., sondern erst in der 2. oder der 1. Sekundarklasse stecken. Irgendwann in der Karriere ist also eine Ehrenrunde eingelegt worden. In manchen Fällen handelt es sich um ein drittes Jahr im Kindergarten; oft ist eine etwas langsamere Entwicklung die Ursache. Diese Form der Wiederholung hat in der Regel weniger Auswirkungen auf den späteren Bildungsverlauf als spätere Repetitionen, die häufiger in einer Sekundarklasse B oder C (wo noch vorhanden) enden. Die Zahl der Repetitionen ist generell aber eher rückläufig. Die integrative Schule hat gelernt, mit individuellen Defiziten anders umzugehen. Sehr selten ist das Gegenteil, das Überspringen einer oder mehrerer Klassen.

Deutschunterricht verstärkt
Mit Sicherheit werden die neuen Kindergärtner nach dem Lehrplan 21 unterrichtet. Der Lehrplan des Kindergartens entspricht bereits heute ungefähr dem neuen; er ist seit Jahren «kompetenzorientiert». Etwas später als heute, erst in der 3. Klasse, wird der Englischunterricht einsetzen, dafür mit einer Lektion mehr in der Startphase. In der zweiten Klasse wird im Gegenzug der Deutschunterricht etwas verstärkt.

Ganz unabhängig von den Neuerungen dieses Lehrplans wird auch die Schule auf die Herausforderungen der Digitalisierung reagieren müssen. Da sind die Unterschiede von Schule zu Schule noch gross. Das zeigt sich jetzt an der Einführung des neuen Fachs Medien und Informatik. Es fehlt an technischer Infrastruktur, es fehlt noch das Lehrmittel, und es fehlen die ausgebildeten Lehrkräfte. Die Ausrüstung der Schülerinnen und Schüler der oberen Primarklassen mit Tablets scheint sich vielenorts durchzusetzen. Aber damit sind die inhaltlichen und ausbildungslogistischen Fragen noch nicht gelöst. Wenig Zeit bleibt noch. Auch der neue Lehrplan gewichtet die verschiedenen Bereiche der Primarstufe aber ausgewogen: 33 Prozent der Unterrichtszeit entfallen auf Gestalten, Musik, Bewegung und Sport, 30 Prozent auf Sprachen, 19 Prozent auf Natur, Mensch und Gesellschaft und 18 Prozent auf Mathematik. Noch hält Pestalozzi der Digitalisierung stand.


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