11. August 2017

Zu hohe elterliche Erwartungen

«Unser Sohn macht nichts Rechtes. Er hat sein Studium abgebrochen und will nun Koch werden.» Diese Sorge meines Kollegen zur Frage nach dem Lebensweg seiner Kinder ist nachvollziehbar. Zum einen grundsätzlich, weil die OECD an der Förderung der akademischen Eliten festhält. Sie stempelt junge Menschen als Bildungsabsteiger ab, wenn sie trotz einem akademischen Familienhintergrund «nur» eine Berufslehre absolvieren. Zum anderen, weil Bildungsabsteiger in unserer akademisch geprägten Zeit ein unangenehmes Thema sind. Denn der ausschliessliche Blick auf erfolgreiche Hochqualifizierte vernebelt die Tatsache, dass unsere auf Leistung getrimmte Gesellschaft ein beachtliches Arsenal an Bildungsabsteigern mit oft unglücklichen Lebenswegen und schwierigen Familiengeschichten produziert.
Wenn Kinder «versagen», NZZ, 11.8. Gastkommentar von Margrit Stamm


Den Kindern nur das Beste
Das Dilemma von Akademikereltern ist realistisch. Obwohl wir alle von der Akademisierungswelle mitbestimmt werden, haben Kinder aus einem solchen Milieu eine relativ grosse Abstiegswahrscheinlichkeit. Folgt man dem Soziologen Martin Schmeiser in seinem Buch zu missratenen Söhnen und Töchtern, so können etwa 60 Prozent den Status halten, aber 40 Prozent möglicherweise nicht. Einen Bauernhof kann man den Kindern vererben, eine akademische Laufbahn nicht.

Vor diesem Hintergrund wollen Eltern für ihre Kinder nur das Beste. Je höher der Status, desto höher sind die Bildungsambitionen. Dies gilt auch dann, wenn sie sagen, es sei ihnen gleich, was aus ihrem Kind einmal wird. Etwa 75 Prozent erwarten zumindest einen Gymnasium-Abschluss, obwohl sie anderes beteuern. Wenig erstaunlich ist deshalb, dass Eltern den Erwartungshorizont für ihren Nachwuchs bereits in dessen zartem Alter von 10 oder 11 Jahren festlegen und dann kaum mehr ändern.

Deshalb investieren Väter und Mütter viel Zeit, Geld und Energie in die Förderung und in die schulische Ausbildung. Sie regulieren die Bildungslaufbahn ihrer Kinder, treiben sie an, setzen sich für sie in der Schule ein, erwarten aber gleichzeitig auch, dass sie die hochgesteckten Ziele erreichen. Ist dem nicht so, dann ist dies ein fast unüberwindliches Problem, für Väter meist etwas weniger als für Mütter. Denn oft treten gerade sie zugunsten der Familie im Beruf kürzer und fragen sich deshalb, ob sich diese Investition gelohnt hat, wenn der Sprössling aus ihrer Sicht derart scheitert. Zugeben tun dies aber die wenigsten Eltern.

Die Tragik solcher Familienkonstellationen ist verständlich. Man hat dem Kind so viele Optionen geschaffen, den Übertritt ins Gymnasium ermöglicht und schlechte Noten mit Lernunterstützung aufgefangen, nur um ihm den Zugang zur Universität zu sichern. Wenn nun die Tochter das Studium abbricht und als Flight-Attendant arbeitet oder der Sohn eine Ausbildung zum Krankenpfleger macht, sehen Eltern ihre Lebensplanung zerstört. Aus den einst hoffnungsvollen Kindern werden schwarze Schafe.

Doch haben wir uns auch schon überlegt, was mit diesen Akademikerkindern passiert, die zwar offensichtlich zu Höherem geboren wären, jedoch «scheitern»? Jedes Kind, ungeachtet seines Geschlechts, seiner sozialen Herkunft oder seines Temperaments, will von den Eltern geliebt werden und Anerkennung bekommen. Oft wird es jedoch von Müttern und Vätern in einer Weise erzogen, die es fühlen lässt, dass es nur etwas wert ist, wenn es erfolgreich ist. Dann schwebt über ihm meist viele Jahre das Damoklesschwert eines mit Liebe und Liebesentzug verbundenen Leistungsdrucks. Dies kann nachhaltige Spuren in der Biografie hinterlassen und zu einem Bildungsabstieg oder -ausstieg führen.

Martin Schmeiser unterscheidet drei Typen, deren gemeinsamer Nenner schlechte Schulleistungen sind: den Hochstapler, den frühen Aussteiger und den Randständigen. Der Hochstapler bleibt lange im Herkunftsmilieu und versucht, durch ein So-Tun-als-ob die Illusion des Akademikers aufrechtzuerhalten. Eine Lebenskrise führt dann zum Abstieg und oft zur Trennung von der Familie.

Ganz anders der frühe Aussteiger, der sich schon im Gymnasium vom gravierenden Elterndruck befreit und sich einen alternativen Lebensstil aufbaut. Auf diese Weise schützt er sein Selbstwertgefühl, so dass die Beziehung zu den Eltern zwar distanziert bleibt, aber nicht abbricht. Der Typ des Randständigen wird schon früh mit einer Abstufung konfrontiert, was seine Zugehörigkeit zum Akademikermilieu infrage stellt. Trotzdem unternimmt er immer und immer wieder Anläufe, nicht zu scheitern. Doch führt dies nur zu einer randständigen Integration sowohl in die akademische als auch die nichtakademische Welt. Deshalb wird die Beziehung zur Familie als notdürftige Kompensation aufrechterhalten.

Viel zu verlieren
Diese Typologie verdeutlicht, wie schwierig es für ein Akademikerkind ist zu scheitern. Ein Arbeiterkind kann sich auf seine soziale Benachteiligung berufen, ein Akademikerkind hat viel zu verlieren. Deshalb ist es eine belastende Hypothek, denselben Weg wie die Eltern beschreiten zu müssen. Auch wenn es sich genauso wie andere Kinder von ihnen distanzieren möchte, kann es dies nicht so tun wie ein Kind von Handwerkern, also durch hartes Arbeiten besser und erfolgreicher werden. Akademikerkinder können nur das Gleiche wie ihre Eltern erreichen.

Oft sind Bildungsabstiege oder -ausstiege eine Folge überfordernder Erziehungsmuster. In der Diskussion um die Leistungsfähigkeit unseres Nachwuchses täten wir deshalb gut daran, mehr Wert auf das individuelle kindliche Leistungsvermögen zu legen und nicht nur das Recht des Kindes auf Bildung zu betonen. Würde es Eltern vermehrt gelingen, entspannter mit den erwartungswidrigen Schulleistungen des Sprösslings umzugehen und nicht sofort ins Lernstudio oder zum Therapeuten zu rennen, hätten sie wahrscheinlich auch entspanntere Kinder – mit geringerer Prüfungsangst und ohne Burnout-Symptome. Weniger Leistungsdruck würde der Familie mehr Lebensqualität und Befreiung bringen.

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg i. Ü.


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