3. November 2017

Die verpasste Chance des Conradin Cramer

Eigentlich hätte er jetzt die Chance seines Lebens. Der Basler Erziehungsdirektor Conradin Cramer (LDP) könnte die Probleme der Lehrer anpacken, die sein Vorgänger verschlafen hat. Gewerkschafterin und Grossrätin Kerstin Wenk (SP) hat diese Probleme im BaZ-Interview gestern dezidiert angesprochen: überfüllte Klassenzimmer, in denen sich Heilpädagogen, Logopäden, Zivildienstleistende und Praktikanten die Klinke in die Hand geben. Die Verbürokratisierung der Schule, sodass die Lehrer kaum mehr Zeit haben, zu unterrichten. Lernberichte schreiben, die Kinder vermessen, bewerten, einstufen.
Nun fassen Lehrerinnen und Lehrer endlich den Mut, das System anzuprangern. In der Primarschule Gotthelf haben sie verweigert, Lernberichte zu verfassen. Nur auf Wunsch der Eltern sollten solche abgegeben werden. Sie argumentieren, dies sei unnötiger Druck und würde gar nichts bringen. 15 Pädagogen aus der Primarschule Wasgenring gratulierten darauf ihren Kollegen in einem BaZ-Leserbrief zu ihrem Mut. Gleichzeitig stellten sie fest, dass ihre Meinung von oben immer weniger gefragt ist.
Das Schweigen des Conradin Cramer, Basler Zeitung, 3.11. von Franziska Laur


Und was tut Conradin Cramer? Er bleibt intransparent und wortkarg, wenn es um Probleme geht.

Geschmeidig, eloquent, charmant tritt der Star der LDP zwar an den Schulanlässen auf, geniesst das Bad in der Menge und punktet mit Humor und Selbstbewusstsein. Doch langsam wäre es nötig, die Vogel-Strauss-Politik, die in der Bildungsdirektion herrscht, aufzugeben und auf den Boden der Realität zu kommen.

Kranke Schule, kranke Kinder
Unsere Schule ist krank. Weit über die Hälfte alle Basler Schüler haben im Laufe ihrer Schulkarriere einen Förderbedarf. Das heisst, sie müssen speziell geschult werden. Das lässt zweierlei vermuten. Einerseits, dass die Schule so verwirrend und langweilig geworden ist, dass Kinder schlicht und ergreifend kein Interesse mehr daran haben. Oder, dass sich die heutige Schule von der Frage leiten lässt, wie man möglichst vielen Kindern zu einer Laufbahn verhelfen kann, für die sich nur wenige eignen. Doch das funktioniert nicht.
Den einen ist es dabei langweilig, weil sie den Stoff schon beherrschen, die anderen sind überfordert. Doch hintenanstehen soll keines und Kleinklassen gibt es nicht mehr. So werden stattdessen die Kinder aus dem Schulzimmer genommen und separat unterrichtet, auf dass die Integration gelinge. Der Kollateralschaden dabei: Die Unruhe in den Klassenräumen ist so gross, dass diejenigen, die weiterlernen wollen, dies mit Gehörschutz tun müssen, damit sie sich konzentrieren können.

Die Therapeuten freuts
Noch schlimmer ist die Situation für diejenigen, die gemäss dem Urteil der Schulpsychologen unter ADHS, Asperger, Verhaltensauffälligkeit oder anderen heutigen Zivilisationsdiagnosen leiden. Der Schlinge der Therapeuten schnürt sich in Windeseile so eng, dass die Betroffenen definitiv zum Aussenseiter abgestempelt sind. Kinderärzte stellen fest, dass ein regelrechter Therapie-Wahn an den Schulen herrscht.
Heute erhalten weit über fünfzig Prozent der Schüler nicht nur Lernhilfe, sondern rund die Hälfte aller Kinder erhält auch Therapien. Psychomotorik- oder Rechenschwäche-Therapien, Legasthenie- oder Ergo-Therapien. Immer häufiger werden Variationen der Norm als pathologisch erklärt.

Und dabei zielen die Lehrer, die den Lernbericht verweigern, in die absolut richtige Richtung. Wenn man nur auf Leistung oder Nicht-Leistung fokussiert, findet man schnell eine Störung. Die wirklichen Fähigkeiten der Kinder werden dabei vergessen. Kommt hinzu, dass sie bei all dieser Taxiererei und dem Vermessen einmal mehr normiert werden.
Ein Schularzt sagte es einmal perfekt: «Sie werden wie Spalierobst gehegt und zurechtgeschnitten. Nicht das geringste Lispeln, die kleinste Tappigkeit beim Balancieren, das gutmütigste Tagträumen, die kleinste Beinlängendifferenz werden toleriert.» Dies mache ihm grosse Sorgen, fügte er hinzu.

Conradin Cramer hätte es in der Hand, lenkend einzugreifen. Doch dafür müsste er wohl zuerst einmal in der Verwaltung unter den Bildungsbürokraten aufräumen. Dort regiert noch der 68er-Groove. Nichts gegen die 68er, die übrigens im kommenden Jahr ein Halbes-Jahrhundert-Jubiläum feiern können. Es waren fantastische Jahre. Sie haben ein engstirniges und selbstgefälliges Bürgertum umgekrempelt und mit ihm auch ein verknöchertes Schulsystem. Viele heutige Pädagogen sind Alt-68er.

Um keinen Preis autoritär sein
Diese Revoluzzer, damals noch mit langen Haaren und Schlaghosen, unterliefen die Schulen mit progressiven Ideen, und sie krempelten das Schulsystem um. Sie kippten nach und nach den Frontalunterricht und, vor allem: Sie wollten um keinen Preis autoritär sein. Sie eckten an, sie kämpften und sie erreichten einiges.

Doch dann kamen sie in die Jahre und siehe da … Das Feuer brannte nicht mehr so hell, die Schüler wurden immer anstrengender und überhaupt, man mochte sich nicht mehr so vor einer Klasse exponieren. Doch es zeigte sich ein Ausweg für die ermatteten Revoluzzer. Die Bildungsverwaltung brauchte Personal: Dort galt es, Reformen einzuläuten, im Namen der Chancengleichheit Selektionshürden abzuschaffen, Konzepte zu erstellen, Evaluationen in Auftrag zu geben. Dort sitzen sie nun und verfassen die Vorgaben für die Lehrer an der Front, die unter immer realitätsfremderen Bildungsvorgaben ächzen.

Conradin Cramer vollzog eine ähnliche Pirouette. Als junger Student hielt er im Jahr 2002 noch eine fulminante 1.-August-Rede. Er prangerte an, dass die Schweiz nicht mit Fehlern umgehen könnte. Er prangerte an, dass die Schweiz nicht reagiere, obwohl die 15-jährigen Schüler in der Pisa-Studie nur an 18. Stelle der untersuchten 32 Staaten liegen. «Ich wünschte mir, dass junge Leute sich trauen können, ein Risiko einzugehen. Ich wünschte mir, dass junge Leute mehr als eine Chance haben, dass wir mit Misserfolgen, mit sogenanntem Versagen, anders umgehen», sagte er damals.

Wie wahr! Doch was tut er heute? Genau das nicht, was er damals propagiert hat. Jetzt, 15 Jahre und eine solide Karriere später, ist er es, der die Fehler seines Vorgängers und Parteikollegen Christoph Eymann nicht eingestehen kann. Dieser rüstete die Bildungsverwaltung zwar ständig auf, doch in den Schulstuben musste gespart werden. Als Conradin Cramer sein Amt antrat, verkündete er als Erstes, dass er nicht im Sinne habe, etwas zu verändern. So zeigt er sich heute praktisch als Klon seines Vorgängers.
Studien zeigen, dass Menschen mit einem realistischen Weltbild mehr zu Depressionen neigen als diejenigen, die irren und an ihrer Meinung festhalten. Conradin Cramer muss ein glücklicher Mensch sein.

Und noch ein Posten als Dozent
Ein Eingeständnis der verfehlten Schulpolitik wäre, anzuerkennen, dass das Heer von Heilpädagogen und Psychologen das Selbstbewusstsein der Kinder schwächt anstatt stärkt. Ein Eingeständnis wäre auch, für wirkliche Transparenz zu sorgen, anstatt nur davon zu reden. Nur ein Beispiel: Die BaZ kämpft vor Gericht darum, Auskunft darüber zu bekommen, welche Schulhäuser bei den Eltern am beliebtesten sind. Conrad Cramer verweigert die Auskunft. Er hat wohl Angst vor der Wahrheit. Denn diese könnte ja lauten, dass an der Bildungspolitik etwas falsch ist.

Die Lösungsansätze der Gewerkschafterin Kerstin Wenk haben Hand und Fuss. Sie schlägt vor, dass weniger Heilpädagogen in Schulzimmern ein- und ausgehen sollen. Dafür soll mehr im Teamteaching (von zwei Lehrpersonen geführter Unterricht) gearbeitet werden. Dann würde mehr Ruhe einkehren. Doch für solche Entscheide scheint Conradin Cramer der revolutionäre Geist zu fehlen.


Lieber lässt er sich von seinem Verwaltungsteam führen, anstatt selbst zu führen. Lieber strahlt er in die Kameras und fällt keine unbequemen Entscheide. Lieber nimmt er einen Posten als Privatdozent an der Uni Basel an, wie das Regionaljournal berichtete, und büffelt für die Prüfung. Das ist gefahrloser. Schliesslich könnte man sonst ja noch Fehler machen. 

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