Eigentlich hätte er jetzt die Chance seines Lebens. Der Basler
Erziehungsdirektor Conradin Cramer (LDP) könnte die Probleme der Lehrer
anpacken, die sein Vorgänger verschlafen hat. Gewerkschafterin und Grossrätin
Kerstin Wenk (SP) hat diese Probleme im BaZ-Interview gestern dezidiert
angesprochen: überfüllte Klassenzimmer, in denen sich Heilpädagogen, Logopäden,
Zivildienstleistende und Praktikanten die Klinke in die Hand geben. Die
Verbürokratisierung der Schule, sodass die Lehrer kaum mehr Zeit haben, zu unterrichten.
Lernberichte schreiben, die Kinder vermessen, bewerten, einstufen.
Nun fassen Lehrerinnen und Lehrer endlich den Mut, das System
anzuprangern. In der Primarschule Gotthelf haben sie verweigert, Lernberichte
zu verfassen. Nur auf Wunsch der Eltern sollten solche abgegeben werden. Sie
argumentieren, dies sei unnötiger Druck und würde gar nichts bringen. 15
Pädagogen aus der Primarschule Wasgenring gratulierten darauf ihren Kollegen in
einem BaZ-Leserbrief zu ihrem Mut. Gleichzeitig stellten sie fest, dass ihre
Meinung von oben immer weniger gefragt ist.
Das Schweigen des Conradin Cramer, Basler Zeitung, 3.11. von Franziska Laur
Und was tut Conradin Cramer? Er bleibt intransparent und wortkarg, wenn
es um Probleme geht.
Geschmeidig, eloquent, charmant tritt der Star der LDP zwar an den
Schulanlässen auf, geniesst das Bad in der Menge und punktet mit Humor und
Selbstbewusstsein. Doch langsam wäre es nötig, die Vogel-Strauss-Politik, die
in der Bildungsdirektion herrscht, aufzugeben und auf den Boden der Realität zu
kommen.
Kranke Schule, kranke Kinder
Unsere Schule ist krank. Weit über die Hälfte alle Basler Schüler haben
im Laufe ihrer Schulkarriere einen Förderbedarf. Das heisst, sie müssen
speziell geschult werden. Das lässt zweierlei vermuten. Einerseits, dass die
Schule so verwirrend und langweilig geworden ist, dass Kinder schlicht und
ergreifend kein Interesse mehr daran haben. Oder, dass sich die heutige Schule
von der Frage leiten lässt, wie man möglichst vielen Kindern zu einer Laufbahn
verhelfen kann, für die sich nur wenige eignen. Doch das funktioniert nicht.
Den einen ist es dabei langweilig, weil sie den Stoff schon beherrschen,
die anderen sind überfordert. Doch hintenanstehen soll keines und Kleinklassen
gibt es nicht mehr. So werden stattdessen die Kinder aus dem Schulzimmer genommen
und separat unterrichtet, auf dass die Integration gelinge. Der
Kollateralschaden dabei: Die Unruhe in den Klassenräumen ist so gross, dass
diejenigen, die weiterlernen wollen, dies mit Gehörschutz tun müssen, damit sie
sich konzentrieren können.
Die Therapeuten freuts
Noch schlimmer ist die Situation für diejenigen, die gemäss dem Urteil
der Schulpsychologen unter ADHS, Asperger, Verhaltensauffälligkeit oder anderen
heutigen Zivilisationsdiagnosen leiden. Der Schlinge der Therapeuten schnürt
sich in Windeseile so eng, dass die Betroffenen definitiv zum Aussenseiter
abgestempelt sind. Kinderärzte stellen fest, dass ein regelrechter
Therapie-Wahn an den Schulen herrscht.
Heute erhalten weit über fünfzig Prozent der Schüler nicht nur
Lernhilfe, sondern rund die Hälfte aller Kinder erhält auch Therapien.
Psychomotorik- oder Rechenschwäche-Therapien, Legasthenie- oder Ergo-Therapien.
Immer häufiger werden Variationen der Norm als pathologisch erklärt.
Und dabei zielen die Lehrer, die den Lernbericht verweigern, in die
absolut richtige Richtung. Wenn man nur auf Leistung oder Nicht-Leistung
fokussiert, findet man schnell eine Störung. Die wirklichen Fähigkeiten der
Kinder werden dabei vergessen. Kommt hinzu, dass sie bei all dieser Taxiererei
und dem Vermessen einmal mehr normiert werden.
Ein Schularzt sagte es einmal perfekt: «Sie werden wie Spalierobst
gehegt und zurechtgeschnitten. Nicht das geringste Lispeln, die kleinste
Tappigkeit beim Balancieren, das gutmütigste Tagträumen, die kleinste
Beinlängendifferenz werden toleriert.» Dies mache ihm grosse Sorgen, fügte er
hinzu.
Conradin Cramer hätte es in der Hand, lenkend einzugreifen. Doch dafür
müsste er wohl zuerst einmal in der Verwaltung unter den Bildungsbürokraten
aufräumen. Dort regiert noch der 68er-Groove. Nichts gegen die 68er, die
übrigens im kommenden Jahr ein Halbes-Jahrhundert-Jubiläum feiern können. Es
waren fantastische Jahre. Sie haben ein engstirniges und selbstgefälliges
Bürgertum umgekrempelt und mit ihm auch ein verknöchertes Schulsystem. Viele
heutige Pädagogen sind Alt-68er.
Um keinen Preis autoritär sein
Diese Revoluzzer, damals noch mit langen Haaren und Schlaghosen,
unterliefen die Schulen mit progressiven Ideen, und sie krempelten das
Schulsystem um. Sie kippten nach und nach den Frontalunterricht und, vor allem:
Sie wollten um keinen Preis autoritär sein. Sie eckten an, sie kämpften und sie
erreichten einiges.
Doch dann kamen sie in die Jahre und siehe da … Das Feuer brannte nicht
mehr so hell, die Schüler wurden immer anstrengender und überhaupt, man mochte
sich nicht mehr so vor einer Klasse exponieren. Doch es zeigte sich ein Ausweg
für die ermatteten Revoluzzer. Die Bildungsverwaltung brauchte Personal: Dort
galt es, Reformen einzuläuten, im Namen der Chancengleichheit Selektionshürden
abzuschaffen, Konzepte zu erstellen, Evaluationen in Auftrag zu geben. Dort
sitzen sie nun und verfassen die Vorgaben für die Lehrer an der Front, die
unter immer realitätsfremderen Bildungsvorgaben ächzen.
Conradin Cramer vollzog eine ähnliche Pirouette. Als junger Student
hielt er im Jahr 2002 noch eine fulminante 1.-August-Rede. Er prangerte an,
dass die Schweiz nicht mit Fehlern umgehen könnte. Er prangerte an, dass die
Schweiz nicht reagiere, obwohl die 15-jährigen Schüler in der Pisa-Studie nur
an 18. Stelle der untersuchten 32 Staaten liegen. «Ich wünschte mir, dass junge
Leute sich trauen können, ein Risiko einzugehen. Ich wünschte mir, dass junge
Leute mehr als eine Chance haben, dass wir mit Misserfolgen, mit sogenanntem
Versagen, anders umgehen», sagte er damals.
Wie wahr! Doch was tut er heute? Genau das nicht, was er damals
propagiert hat. Jetzt, 15 Jahre und eine solide Karriere später, ist er es, der
die Fehler seines Vorgängers und Parteikollegen Christoph Eymann nicht
eingestehen kann. Dieser rüstete die Bildungsverwaltung zwar ständig auf, doch
in den Schulstuben musste gespart werden. Als Conradin Cramer sein Amt antrat,
verkündete er als Erstes, dass er nicht im Sinne habe, etwas zu verändern. So
zeigt er sich heute praktisch als Klon seines Vorgängers.
Studien zeigen, dass Menschen mit einem realistischen Weltbild mehr zu
Depressionen neigen als diejenigen, die irren und an ihrer Meinung festhalten.
Conradin Cramer muss ein glücklicher Mensch sein.
Und noch ein Posten als Dozent
Ein Eingeständnis der verfehlten Schulpolitik wäre, anzuerkennen, dass
das Heer von Heilpädagogen und Psychologen das Selbstbewusstsein der Kinder
schwächt anstatt stärkt. Ein Eingeständnis wäre auch, für wirkliche Transparenz
zu sorgen, anstatt nur davon zu reden. Nur ein Beispiel: Die BaZ kämpft vor
Gericht darum, Auskunft darüber zu bekommen, welche Schulhäuser bei den Eltern
am beliebtesten sind. Conrad Cramer verweigert die Auskunft. Er hat wohl Angst
vor der Wahrheit. Denn diese könnte ja lauten, dass an der Bildungspolitik
etwas falsch ist.
Die Lösungsansätze der Gewerkschafterin Kerstin Wenk haben Hand und
Fuss. Sie schlägt vor, dass weniger Heilpädagogen in Schulzimmern ein- und
ausgehen sollen. Dafür soll mehr im Teamteaching (von zwei Lehrpersonen
geführter Unterricht) gearbeitet werden. Dann würde mehr Ruhe einkehren. Doch
für solche Entscheide scheint Conradin Cramer der revolutionäre Geist zu
fehlen.
Lieber lässt er sich von seinem Verwaltungsteam führen, anstatt selbst
zu führen. Lieber strahlt er in die Kameras und fällt keine unbequemen
Entscheide. Lieber nimmt er einen Posten als Privatdozent an der Uni Basel an,
wie das Regionaljournal berichtete, und büffelt für die Prüfung. Das ist
gefahrloser. Schliesslich könnte man sonst ja noch Fehler machen.
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