18. November 2017

Eine Vollkasko-Gesellschaft hat keine Zukunft

Darf man noch Schulreisen durchführen? Oder ist das zu gefährlich? Die Frage stellt sich, nachdem zwei Aargauer Lehrern der Prozess gemacht worden ist, weil auf einem Ausflug im Fricktal ein 12-jähriger Schüler tödlich verunfallt war. Der Bub hatte sich von der Gruppe entfernt und stürzte eine Böschung herunter. Die Lehrer wurden wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Das sorgte unter Pädagogen für Verunsicherung. Denn ein Unfall wie jener im Fricktal kann nie ausgeschlossen werden, wenn man etwas unternimmt – auch nicht bei perfekter Vorbereitung und Durchführung. Mancher Lehrer, manche Lehrerin fragt sich: Kann ich mit meiner Klasse das Schulzimmer überhaupt noch verlassen, wenn ich vermeiden möchte, am Ende vor Gericht oder gar im Gefängnis zu landen? Dass die beiden Aargauer Lehrer am Donnerstag erstinstanzlich freigesprochen wurden, weil sie die Sorgfaltspflicht nicht verletzt hatten, wird die Bedenken kaum zerstreuen.
Eine Vollkasko-Gesellschaft hat keine Zukunft, Schweiz am Wochenende, 18.11.



Vor wenigen Wochen machte ein weiterer Gerichtsfall Schlagzeilen, der nicht die Lehrer, aber manchen Hobbyfussballer verstörte. Ein Gericht verurteilte einen 4.-Liga-Torhüter wegen fahrlässiger Körperverletzung, nachdem dieser mit gestrecktem Bein einen Stürmer gestoppt hatte, wobei sich dieser das Schienbein brach. Ein Foul, gewiss – aber eines, das auf dem Fussballplatz geschehen kann. Kann man sich noch bedenkenlos als Hobbykicker betätigen, ohne Angst vor einem Strafregistereintrag zu haben?

Scharfe Rüge an den Vater
Was in den USA begann, ist in Europa und in der Schweiz angekommen. Das erste Gebot lautet heute: Nur keine Fehler machen, nichts riskieren. Sonst droht eine Klage, der Stellenverlust oder die gesellschaftliche Ächtung. Man kann diese Mentalität schon im Kleinen sehen. Mein vierjähriger Sohn liebt Trottinettfahren. Kürzlich tuckerte ich mit ihm durchs Quartier – er (mit Helm!) auf dem Kickboard, ich im Schneckentempo mit dem Velo neben ihm. Das brachte mir eine scharfe Rüge eines Passanten ein, der mich auf die Gefährlichkeit dieses Unterfangens hinwies.

Auf Spielplätzen ist es spannend, die Eltern zu beobachten: Nebst denjenigen, die dauernd am Handy hängen, gibt es solche, die jeden Schritt ihres Kindes begleiten und ermahnend kommentieren. Achtung! Langsamer! Aufpassen! Überall wittern sie Gefahren, welche mit Nonstop-Überwachung abgewendet werden müssen. Entsprechend sind die elterlichen Erwartungen an Krippen, Horte und Schulen. In Zürich haben Kinderkrippen Vorschriften für die Benutzung von Bobby-Cars erlassen, nachdem zwei Knirpse damit umgekippt waren und sich Schürfungen zugezogen hatten.

Dass man Unfälle und Malheurs so gut wie möglichen vermeiden will, ist klar und richtig. Doch in verschiedenen Lebensbereichen nimmt die Vollkasko-Mentalität übertriebene und schädliche Ausmasse an. In Alters- und Pflegeheimen müssen die Angestellten jede Handreichung dokumentieren – zu ihrer eigenen Absicherung. Am Ende bleibt weniger Zeit für die Menschen, die sie betreuen. Ähnlich ist es bei anderen sozialen Berufen. Eine Untersuchung förderte zutage, dass Assistenzärzte am Kantonsspital Baden pro Tag nur 94 Minuten mit dem Patienten verbringen, hingegen sehr viel Zeit aufwenden für Berichte, Dokumentationen und das Nachführen von Patientenakten.

Hoch entwickelte, wohlhabende Gesellschaften neigen zur Risikoaversion. Ökonomen haben dieses Phänomen mehrfach erforscht, und es ist ja auch plausibel: Je besser es einem geht, umso mehr hat man zu verlieren. Die geopolitische Grosswetterlage fördert diese Haltung. Der Schweiz geht es gut, hier leben wir sicher, während im Rest der Welt Unruhe, Terror und Kriege vorherrschen. Halten! Absichern!, lautet da die kollektive Handlungsanweisung.

Ohne Risiko kein Unternehmertum
Auf die Dauer aber ist gerade das gefährlich. Eine Angsthasen-Gesellschaft verkümmert. Wer kein Risiko eingeht, gründet kein Unternehmen und tätigt keine Investition. Woher aber sollen dann die Arbeitsplätze der Zukunft und der Wohlstand von morgen kommen? Der Staat ist hier keine Hilfe, im Gegenteil. Er fördert die Absicherungsmentalität mit immer neuen Vorschriften. Von Lebensmittelverordnungen bis zur Bankenregulierung – Unfallvermeidung ist das oberste Gebot.


Die Angst vor dem Risiko ist vielleicht unser grösstes Risiko. Eine solche Gesellschaft wächst nicht mehr, sie entwickelt sich nicht mehr, sie bringt keine Reformen mehr zustande. Dabei wissen wir doch: Ein Leben ohne Risiko gibt es nicht. Der Soziologe Niklas Luhmann hat es einmal so erklärt: Wir können zwar bei jedem Wetter einen Regenschirm mitnehmen. Tun wir das, besteht aber das Risiko, dass wir den Schirm irgendwo vergessen. Darum: Riskieren wird doch, auch einmal nass zu werden!

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