Zensuren
gleich von Anfang an? Der Kanton hat die Noten für Schulstarter zuerst
abgeschafft und dann wieder eingeführt. Nun könnte es erneut zu einer Wende
kommen.
Zuerst abgeschafft, dann wieder eingeführt: Wie sinnvoll sind Schulnoten für Erstklässler? Solothurner Zeitung, 16.11. von Sven Altermatt
Wie vernünftig aber ist es, den Erfolg von
Schülern mit Noten zu bewerten? Erst recht, wenn sie noch ganz am Anfang ihrer
Bildungslaufbahn stehen? Wahrscheinlich sind diese Fragen so alt wie die
Volksschule selbst. Und trotzdem sorgen sie immer wieder für Zündstoff – gerade
in Solothurn: Der Kanton ist neben Glarus und Tessin der einzige, der bereits
die Leistungen von Erstklässlern benoten lässt.
Wie
lange das noch Bestand haben wird, ist allerdings ungewiss. Von der
Öffentlichkeit bislang unbemerkt, diskutieren Bildungsstrategen einmal mehr
über Sinn und Unsinn von Noten. Das Solothurner Volksschulamt hat im Frühjahr,
gleich nach dem Ja zum Lehrplan 21 an der Urne, eine Arbeitsgruppe zum Thema
eingesetzt. Seither treffen sich Vertreter von Behörden, Lehrkräften und
Schulleitern regelmässig hinter verschlossenen Türen. Sie sollen die bisherigen
Beurteilungsformen überprüfen und Vorschläge ausarbeiten, wie Leistungen im
Zeugnis dargestellt werden könnten.
Konkret
geht es um den sogenannten ersten Zyklus der Volksschule. Gemäss Lehrplan 21
beginnt dieser mit dem Eintritt in den zweijährigen Kindergarten und endet mit
dem Abschluss der zweiten Klasse der Primarschule. Das neue Regelwerk ist
grundsätzlich auf Kompetenzen ausgerichtet. Demnach ist nicht mehr in erster
Linie massgeblich, was Kinder wissen, sondern was sie können sollen. Weil
entsprechende Fähigkeiten jedoch nicht einfach wie Wissen beurteilt werden
können, lanciert der Lehrplan 21 erneut eine Debatte um Schulnoten.
Kritik am Status quo
Eine
Leistungsbeurteilung sollte im Zeugnis «frühestens zum Ende der zweiten Klasse»
aufgeführt werden, empfiehlt die Konferenz der Deutschschweizer
Erziehungsdirektoren in einem Fachbericht. Nach dem Kindergarten und der ersten
Primarschule erachte man lediglich eine Bestätigung des Besuchs im Zeugnis als
angebracht.
Verbindliche
Ziele sind im Lehrplan 21 erstmals für das Ende des ersten Zyklus
festgeschrieben, erinnern die Erziehungsdirektoren. «Damit wird der Tatsache
Rechnung getragen, dass sich die Kinder auf dieser Stufe hinsichtlich ihrer
Lernentwicklung stark unterscheiden», heisst es in dem Bericht weiter. Ebenso
könne vermieden werden, «dass die Kinder zu früh einem nicht altersgemässen
Leistungsdruck ausgesetzt werden».
Anders
gesagt: Der Solothurner Status quo entspricht nicht unbedingt dem, was als
zeitgemäss taxiert wird. Auch im Bildungsdepartement von Regierungsrat Remo
Ankli (FDP) scheint diese Erkenntnis angekommen zu sein. Zwar werden die
Ergebnisse der Arbeitsgruppe erst im Mai des kommenden Jahres erwartet. Aber
bereits jetzt wird deutlich, in welche Richtung deren Vorschläge gehen könnten.
«Die
alleinige Beurteilung durch Noten ist besonders beim Schulstart mit den grossen
Unterschieden im Entwicklungsstand der Kinder heikel», schreibt der
Regierungsrat in seiner Stellungnahme zu einer Anfrage von SP-Kantonsrat
Mathias Stricker. Der Bettlacher sitzt in der Geschäftsleitung des kantonalen
Lehrerverbandes und präsidiert die Gruppe der Primarlehrpersonen. In seinem
Vorstoss wollte er wissen, welche Auswirkungen der Lehrplan 21 aus offizieller
Sicht auf die Beurteilungspraxis haben wird.
Schulstart steht im Fokus
Mit kritischen Tönen zur Benotung von
Schulstartern lässt sich die Regierung in ihrer Vorstossantwort überraschend
tief in die Karten blicken. Grundsätzlich vertritt sie die Ansicht:
«Beurteilung, Lehrplan und Lernen» sollten stets aufeinander abgestimmt sein.
«Je nach Funktion sind andere Formen als die Notengebung bei der
Leistungsbeurteilung als Ergänzung wichtig.» Die Frage, wie die «Beurteilung
des ersten Zyklus» ausgestaltet werden soll, hält die Exekutive für
vordringlich, das betont sie gleich mehrfach. «Sicher keine Änderungen» wird es
laut ihrer Stellungnahme bei den anderen Zyklen geben – bei der dritten bis
sechsten Klasse der Primarschule und der Sekundarschule also.
«Die frühe Benotung von Schülern ist ein Riesenthema unter den
Primarlehrern im Kanton», sagt Stricker im Gespräch. Die Mehrheit stünde dem
heutigen System eher ablehnend gegenüber. Nicht zuletzt mit Blick auf die
spezielle Förderung gestalte sich der Umgang mit Noten als schwierig. Der
oberste Primarlehrer des Kantons kritisiert: «Wer gerade erst eingeschult
worden ist, kann noch gar nicht richtig einordnen, was eine Note überhaupt
bedeutet.»
Lehrer wollen anderes System
Bereits im vergangenen Jahr hat der Lehrerverband eigens einen Runden
Tisch zur Problematik durchgeführt. Stricker stimmt zuversichtlich, dass nun
auch die Behörden aktiv geworden sind. Beim Lehrerverband betont man, es gehe
keineswegs einfach darum, die Noten wieder abzuschaffen. Vielmehr habe man
jetzt die Möglichkeit, ein sinnvolleres System einzuführen. Welche Alternativen
denkbar wären, verdeutlicht die Regierung in ihrer Stellungnahme zu Strickers
Vorstoss. Als Beispiele für «differenziertere Praktiken» aus anderen Kantonen
nennt sie etwa Prädikate («gut erreicht», «erreicht» oder «nicht erreicht»),
Beurteilungsbögen mit Ergänzungen oder Lernberichte.
Dass der Lehrerverband vieldeutig von der «Weiterentwicklung des
Beurteilungssystems erster Zyklus» spricht und die Behörden den vagen Begriff
«Beurteilungsformen» prägen, kommt nicht von ungefähr. Vielmehr dürfte die eher
defensive Terminologie den politischen Befindlichkeiten geschuldet sein. Denn
Schulnoten waren im Solothurnischen stets hoch umstritten.
Erst im Sommer 2011 war der Kanton zur Notengebung ab der ersten Klasse
zurückgekehrt. Zuvor gab es auf der unteren Schulstufe während über zwei
Jahrzehnten keine Noten mehr. Der Kantonsrat aber war damit nicht zufrieden und
wollte einen Schritt zurückgehen. 2004 stimmte er einem entsprechenden Postulat
aus der CVP zu, 2008 doppelte die SVP in einem Auftrag erfolgreich nach.
Immerhin: Trotz Noten hielt das Promotionsreglement für die Primarschule
weiterhin an Beurteilungsgesprächen fest.
Politik hat Noten aufgezwungen
Eine Mehrheit im Parlament vertrat jeweils den Standpunkt, die
jährlichen Beurteilungsgespräche zwischen Lehrern, Eltern und Kindern genügten
nicht. Besonders Eltern würden sich bisweilen in falscher Sicherheit wiegen,
bis mit den Noten das böse Erwachen kommt. Zudem seien Prädikate wie «Lernziel
erreicht» beliebig.
Die Vertreter der Lehrerschaft warnten vergebens, es würde lediglich
eine Scheingenauigkeit vorgegaukelt. Noten hätten für Schulstarter einen
beschränkten Aussagewert, meist wirkten sie nur auf leistungsstärkere Schüler
motivierend. Darüber hinaus entstünde eine «trügerische
Noten-Durchschnittsrechnerei». Es sind die Argumente, die auch in den kommenden
Monaten wieder vermehrt zu hören sein dürften.
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