16. November 2017

Zunehmende Psychiatrisierung der Kinder

Kinder sind verspielt, aktiv, haben Freundinnen und Freunde, lachen gern – und ja, sie dürfen auch kreischen und schreien. Doch das ist eine Wunschvorstellung. Die Realität ist eine andere – und auch die ist erst mal gar nicht negativ. Der deutsche Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort hat sie treffend beschrieben: «Kinder sind nicht nur glücklich, sie sind nachdenklich, fröhlich, verzweifelt – sind alles, was Erwachsene auch sind.» Dies zu akzeptieren, wäre schon einmal die halbe Miete im Umgang mit Kindern. Sie können auch mal traurig, niedergeschlagen, depressiv sein. Aber dann brauchen sie eine helfende Hand, eine liebende Mutter, einen fürsorglichen Vater oder gute Freunde.
Lasst Kinder Kinder sein, Tages Anzeiger, 15.11. von Matthias Meili


Was diese Kinder sicher nicht brauchen, sind Psychiater und Antidepressiva. Aber Zeit und Raum, um sich die Welt spielerisch anzueignen, wie es ihrem Alter entspricht – davon können sie nicht genug haben. Plus vielleicht eine Aufgabe, die sie fordert und anregt. Michel Seiler, der eine Stätte für schwierige Jugendliche im hintersten Emmental führt, sagt: «Holzhacken ist heilsam.» Es braucht Kraft und Bewegung, man riecht das Holz, erlebt die Natur und lernt erst noch Bruchrechnen.

Kinder im Psychiatrienotfall
Doch diese heile Welt hat längst Risse. Immer mehr Kinder und Jugendliche sind von Burn-out betroffen, die Anzahl der Depressionen bei den Jungen und Allerjüngsten wächst. Die Notfallaufnahmen in den Psychiatrien haben sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Und selbst wenn die Suizidraten nicht angestiegen sind: Die Trends sind besorgniserregend. Ein Malaise lässt sich nur noch leugnen, wenn man beide Augen schliesst und die Ohren auf taub stellt. Die klinischen Fälle sind nämlich das alarmierende Signal für ein tiefer liegendes gesellschaftliches Problem. Es lässt sich in drei Punkten schildern.

«Der Leistungs- und Förderwahn führt in einen Teufelskreis.»
Erstens: die leistungsorientierte Gesellschaft. Wir wollen immer das Optimum, die besten Schulen, die schönste Freizeit, den höchsten Lohn. Selten werden diese Anforderungen offen ausgesprochen. Den meisten Eltern liegt es fern, gute Noten zu fordern oder gar schlechte zu bestrafen. Doch Kinder haben ein feines Gespür für Erwartungen. Sie riechen Belohnungen, wenn sie noch nicht einmal in Aussicht gestellt werden. Psychiater sagen, dass sich ihre kleinen Patienten selber einem enormen Leistungsdruck aussetzen, vor allem die Mädchen – und oft daran scheitern.
Zweitens: die leistungsorientierte Schule. Bereits im Kindergarten werden die Fähigkeiten der Kinder in peinlich genauen Beurteilungs­bogen erfasst. Wie ist das Sozialverhalten? Wie entwickeln sich die sprachlichen, wie die mathematischen Fähigkeiten des Kindes? Grobmotorisch, feinmotorisch? Alles müssen die Lehrer pedantisch ausfüllen und kommentieren. Der Beurteilungsbogen im Kindergarten erinnert eher an ein Assessment für einen Managerposten als an die Wertschätzung für einen Dreikäsehoch.

Schwächen analysieren
Drittens: der Fokus auf Schwächen. Wo es früher bei der Berufswahl darum ging herauszufinden, was man gerne macht, gilt es heute Schwächen und Stärken zu analysieren. Auch das beginnt schon früh. In den ersten Schuljahren gibt es zwar keine Noten, aber die Fixierung auf die Schwächen der Kinder sticht ins Auge. Die Punkte mit Förderbedarf sind im Beurteilungs­bogen dick orange eingefärbt, die Stärken verschwinden unter einem blassen Grün. Das Elterngespräch dreht sich zu drei Vierteln darum, was das Kind besser machen kann. Und wo es nicht der Norm entspricht, wird es aus der Klasse genommen und gefördert, mit Heilpädagogik, Psychomotorik, Ergotherapie. Doch die gut gemeinte Botschaft kommt anders an. Wo habe ich versagt? Wo muss ich mich mehr anstrengen?

Wenn dann noch Mobbing, der ständige Vergleichsdruck in den sozialen Netzwerken oder gar schwierige Familiensituationen dazukommen, blocken viele Kinder ab. Sie werden zu «Schulleichen», die keinen Millimeter vorankommen, wenn etwas von ihnen verlangt wird. Und brauchen doch noch einen Psychiater.

Der Leistungs- und Förderwahn führt in einen Teufelskreis, der nur durchbrochen werden kann, wenn man die Kinder wieder Kinder sein lässt – auch in der Schule. Remo Largo, der Doyen der Schweizer Kinderärzte, prägte den Satz, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Man reisst es höchstens aus.


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