7. Januar 2018

Mit Digitalisierung aufs zwischenmenschliche Abstellgleis?

Staat, Kantone und Bildungsverantwortliche treiben die Digitalisierung voran. Dahinter steht die Angst, im Wettbewerb den Anschluss zu verpassen. Die Gefahr von massiven Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen wird ausgeblendet. Ein Zwischenruf.
Mit Digitalisierung aufs zwischenmenschliche Abstellgleis? EDU Standpunkt Januar 2018 von Lisa Leisi
Es heisst: Um im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben, müssten Grundschulkinder - ja sogar Kindergartenkinder! - dringend Programmieren lernen. Entsprechend sollen keine Ausgaben gescheut werden, um Schulen mit entsprechenden Geräten aufzurüsten. Auch die Lehrkräfte müssen nachgebildet werden. Als Berater fungieren der Entwicklung wohlgesinnte IT-Firmen und die Wirtschaft. Persönliche Daten aus Facebook, Google und Twitter - sowie Lernprogrammen! - für Big-Data-Analysen werden nicht zufällig als «Gold des 21. Jahrhunderts» bezeichnet. Das Ziel: verwertbare Aussagen über das Verhalten des Individuums. In der Schule von morgen wird das «soziale» Gegenüber ein von Algorithmen gesteuerter sprechender Bildschirm sein.

Fataler Fortschrittswahn
Noch wird Kritikern und Warnern wie (Medien-) Pädagogen, Neurobiologen und Kinderärzten kaum Gehör geschenkt. Die Neurobiologin Gertraud Teuchert-Noodt ist überzeugt: «Erstmals in der Menschheitsgeschichte wird uns durch die Digitalisierung die für Denkprozesse absolut notwendige neuronale Grundlage streitig gemacht.» Der USamerikanische Psychologieprofessor Larry Rosen fasst die zahlreichen Nebenwirkungen übermässigen Medienkonsums - auch im Erwachsenenalter - unter dem Begriff «iDisorder» wie folgt zusammen: Zwangshandlungen, wie das ständige Starren aufs Smartphone, Angstzustände bei Abwesenheit digitaler Geräte, Enthemmung in der virtuellen Kommunikation, ausgeprägter Narzissmus in der Selbstdarstellung, Aufmerksamkeitsstörungen, beeinträchtigtes Durchhaltevermögen, Empathieverlust und Einsamkeit. Wollen wir diese Art «Fortschritt» wirklich?

Folgenschwere Beeinträchtigungen
Zwei brandaktuelle Studien (BMBF 2017, BLIKK-Studie 2017) zeigen auf, dass bei etwa der Hälfte der Grundschulkinder schulische Entwicklungsstörungen wie Lesen-, Rechtschreib- oder Rechenstörungen diagnostiziert werden. Miteinher gehen als Folge der frühen Nutzung digitaler Medien Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen, körperliche Hyperaktivität, innere Unruhe bis hin zu aggressivem Verhalten. Schon Säuglinge leiden unter Essens- und Einschlafstörungen, wenn sich die Eltern während der Betreuung des Kindes mit digitalen Medien beschäftigen (ZDF Text, 29.5.2017). Aktuelle Studien von AOK, DAK und Barmer sehen bei Kindern und Jugendlichen massive Anstiege von Burnout, Kopfschmerzen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen im Zusammenhang mit der exzessiven Nutzung digitaler Medien.

Das Gehirn verkümmert
Die bereits erwähnte Neurobiologin Gertraud Teuchert-Ncodt weiss aus der Hirnforschung, dass vielfältige Bewegungsaktivitäten in den Kinderjahren für die Reifung mentaler Funktionen unverzichtbar sind. Es müssen vielfältige reale Erfahrungen in Raum und Zeit im Gehirn verankert werden können. Ohne diese Stimulanzien können sich Verschaltungen in den motorischen und den nachgeschalteten Hirnregionen nicht normal ausbilden. Eine 20 Jahre dauernde Reifung und zunehmende Differenzierung der Nervennetze kann nicht verkürzt werden und findet auch insbesondere durch Schreiben, Rechnen und Lesen lernen statt. Bestimmen Computer und Tablets das Lernen, kommt es durch neuronale Überaktivierung zu einer Notreifung im Gehirn, die zeitlebens auch weitsichtiges Denken, Planen und Handeln beeinträchtigt.

Nur durch aktive und wiederholte Kopfarbeit aufgenommene Lerninhalte schulen Wachheit, Neugierde, kreatives Denken und Bewusstsein. Und nur Wissen schafft Bewusstsein, und mehr Wissen erweitert das Bewusstsein. Erst ab der Adoleszenz kann eine Person zudem eine Sucht bewusst verhindern und sinnbezogen mit Medien umgehen.

Was ist zu tun?
Aufklärung der Politiker, Bildungsverantwortlichen und Eltern ist dringend! Einer IT-Bildungsoffensive an den Grundschulen muss mit Vehemenz entgegengetreten werden. Kinder brauchen die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern für ein gesundes Aufwachsen. Damit verbunden sind Vorlesen, gemeinsame Spiele, der Austausch von Gedanken und Empfindungen sowie vielfältige Aktivitäten und Erfahrungen draussen in der Natur. Genauso braucht es an den Schulen eine Rückbesinnung auf Bewährtes, wenn Newsletter «Lehrplan vors Volk» vom 7. 1. 2018 Seite 9 Kinder weiterhin zu selbstbestimmten Persönlichkeiten mit kritischer Urteilsfähigkeit heranwachsen sollen, die gesellschaftliche Entwicklungen verantwortlich mitgestalten können.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen