10. Februar 2018

Deutsch und Rechnen am Computer

Es ist eine paradoxe Aufgabe: Die Schulen müssen die Arbeitskräfte von morgen auf eine wirtschaftliche Zukunft vorbereiten, die sie gar nicht kennen. Schätzungen zufolge werden zwei Drittel der heutigen Schüler dereinst in Jobs und Funktionen arbeiten, die es noch nicht gibt. Die Digitalisierung verändert den Arbeitsmarkt rasant – und die Wirtschaft ist unzufrieden, wie die Schulen auf diese Entwicklung reagieren. Deshalb drückt sie jetzt aufs Tempo: Ein halbes Jahr bevor grosse Kantone wie Zürich und Bern den Lehrplan 21 einführen, hat der Dachverband Economiesuisse gestern seine Forderungen für einen digitalisierten Unterricht vorgestellt.
Illustration Schaad, Tages Anzeiger
Primarschüler für den Arbeitsmarkt fit machen, Tages Anzeiger, 10.2. von Raphaela Birrer


Zum einen geht es der Wirtschaft um das neue Fach Medien und Informatik, das künftig ab der Mittelstufe mit mindestens einer Wochenlektion unterrichtet wird. Economiesuisse bereitet Sorgen, dass es in manchen Kantonen auf Kosten der Mathematik eingeführt werden soll, wie Chefökonom Rudolf Minsch sagt. Das sei angesichts des Mangels an Mint-Fachkräften kontraproduktiv. Wichtig sei zudem, dass Informatikinhalte auch in andere Fächer diffundierten – dass etwa im Zeichenunterricht Bilder digital bearbeitet würden. Doch auch dafür seien die Voraussetzungen in den Schulen nicht ideal: Insbesondere ältere Lehrkräfte verfügten nicht über ausreichend Kenntnisse, um den Schülern diese Inhalte näherzubringen. Economiesuisse schlägt deshalb vor, Informatiklehrlinge oder -studenten als Klassenassistenten einzusetzen.

Klassen auflösen?
Doch die Wirtschaft geht noch viel weiter: Nach ihrem Willen soll die Schule nicht nur neue Inhalte anbieten, sondern sich komplett neu organisieren. Konkret sollen Primarschüler künftig in den beiden Kernfächern Mathematik und Deutsch «digital» unterrichtet werden. Individualisierte Lernformen wie Wochenpläne würden bislang durch den enormen Aufwand für die Lehrer erschwert, sagt Minsch. Mit computerbasierten Lernprogrammen sei es fortan wesentlich einfacher, die Lernfortschritte zu kontrollieren und zu dokumentieren.

Die Forderung birgt Sprengkraft, denn der Wirtschaftsdachverband verknüpft den digitalen Unterricht mit einer Aufweichung der Stammklassen: Die Primarschüler sollen in Mathe und Deutsch nicht mehr in ihren Jahrgangsklassen, sondern nach Niveau unterrichtet werden – analog den Leistungsklassen in der Oberstufe. «Wir müssen von der irrigen Meinung loskommen, alle Schüler gleich weit bringen zu können», sagt Minsch dazu. Die Kombination aus leistungsbasierten Klassen und individuellem digitalem Lernen verspreche den grössten Schulerfolg in den beiden Kernfächern – sowohl für die starken als auch für die schwachen Schüler. Minsch ist überzeugt, dass diese Unterrichtsstruktur der Schule den Weg in die Zukunft weisen wird: «Es ist nicht die Frage ob, sondern wann dieses Modell kommt.»

Das beurteilt der Lehrerdachverband LCH indes anders. «Der individuelle Lernprozess kann künftig auch digital abgebildet werden, ohne die Stammklassen aufzulösen», sagt Präsident Beat W. Zemp. Die Lehrerschaft und die Kantone wehren sich zudem gegen den Vorwurf, die Digitalisierung zu zögerlich in die Schulzimmer zu integrieren. Bei der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) heisst es, die Kantone setzten sich intensiv mit deren Auswirkungen auf die Bildung auseinander. Noch im laufenden Jahr werde eine Strategie zum Thema erarbeitet. Und der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver warnt davor, angesichts der neuen computerbasierten Lernprogramme in «Goldgräberstimmung» zu verfallen. Gerade weil die Digitalisierung alles tiefgreifend verändere, sei es wichtig, dass die Schüler nicht vor den Computern vereinsamten.

«Es geht um die Haltung»
Der perfekte Umgang mit den technischen Geräten sei zweitrangig, zumal diese in einigen Jahren bereits wieder überholt seien, so Pulver. Stattdessen müsse sich die Schule eben gerade auf ihre klassische Aufgabe besinnen: «Sie muss den Schülern eine Haltung vermitteln. In diesem Fall die Haltung, keine Angst vor Veränderungen zu haben und Innovationen offen zu begegnen. Das ist nur im zwischenmenschlichen Austausch möglich.»

Das beurteilt Zemp ebenso: «Das Klassenzimmer und die Lehrer werden durch die Digitalisierung keineswegs überflüssig.» Der oberste Schweizer Lehrer begrüsst es, dass auch Economiesuisse dies im Forderungspapier betont. Der Wirtschaftsdachverband verweist auf Studien, denen zufolge soziale Kompetenzen künftig auf dem Arbeitsmarkt sogar eher noch stärker nachgefragt sein werden.

Die sozialen Kompetenzen kämen allerdings gerade in den digitalen Leistungsklassen, wie sie der Wirtschaft vorschweben, zu kurz, gibt Zemp zu bedenken. «Die Schüler lernen in heterogenen Klassen viel voneinander.»


3 Kommentare:

  1. Economiesuisse mit Linksparteien für Lehrplan 21

    Die Forderungen von Economiesuisse, dem die globalen Konzerne mit Sitz in der Schweiz angehören, sind nichts Neues. Schon bei der Gründung der globalen Wirtschaftsorganisation OECD 1961 war der Totalumbau der nationalen Bildungssysteme das Haupttraktandum. Die europäischen Mitgliedstaaten wurden vom Gründungspräsidenten, einem hohen Funktionär der US-Regierung, aufgefordert, ihre Bildungssysteme gemäss amerikanischem Vorbild umzubauen, obschon das US-Bildungssystem schon damals ein tiefes Niveau hatte. Es erstaunt nicht, dass Economiesuisse die konsequente Umsetzung des Lehrplans 21 fordert. Dieser basiert gemäss den „Grundlagen für den Lehrplan 21“ auf der „Kompetenzorientierung“ nach Weinert. Der deutsche Psychologe Franz Weinert hat diese Art neoliberaler „Kompetenzorientierung“, die auf der "Unterrichts"ebene das individualisierte, „selbstgesteuerte Lernen“ am Computer beinhaltet, 1999 für die OECD geschaffen. Nicht nachvollziehbar ist, dass kapitalismuskritische Linksparteien ebenfalls für den Lehrplans 21 sind, obschon mit ihm eine alte Forderung der globalen Konzerne in Erfüllung geht, mit der die globalen Umsätze massiv gesteigert werden können. Was gleichzeitig für die Volksschule ein Bildungsabbau in Richtung amerikanisches Niveau bedeutet.

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  2. Ein hervorragender Artikel zu den Zielen und Ursprüngen der OECD in Europa findet sich hier: http://publications.uni.lu/bitstream/10993/255/1/Tro%CC%88hler_Standardisierung_nationaler_Bildungspolitiken_2013.pdf
    Autor: Daniel Tröhler, Universität Luxemburg

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  3. Eliane Perret schreibt folgenden Kommentar:
    Es war schon immer eine Entwicklungsaufgabe für nachfolgende Generation, sich auf eine Zukunft vorzubereiten, die viele Unbekannten und Ungewissheiten in sich trug. Bestanden haben immer diejenigen, die in ihrer Persönlichkeit so gereift waren, dass sie ohne Lebenskrise auch mit neuen Situationen zurecht kamen. Dazu braucht eine umfassende Bildung, die eine Sicht ohne Tunnelblick auf die Welt zulässt. Ein solcher Mensch ist intellektuelle, sozial und emotional so gereift, dass er nicht nur sich, sondern auch seine umgebenden Mitmenschen im Auge hat. Die Schule übernimmt dabei in Ergänzung der elterlichen Erziehung einen Bildungsauftrag, dem ein personales Menschenbild zugrunde liegt und zu einem Leben als mündiger Bürger / als mündige Bürgerin befähigt.

    Die im Artikel beschriebene Vorstellung von (Nicht-)Schule und (Nicht-)Bildung hingegen entspringt einer ökonomistischen Sicht des Menschen in einer Welt, in der einige wenige rücksichtlos über das Schicksal der Menschheit bestimmen wollen. Dazu soll die Schule herhalten, um aus jedem einzelnen, auch schon dem Kleinkind, das „Humankapital“ herauszupressen, um es je nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu fördern oder fallen zu lassen.

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