14. März 2018

Doktortitel vererben sich

Die Aussicht auf den heutigen Tag behelligt Tims Nerven seit langem. Heute ist die Gymiprüfung. «Das hängt in Zürich natürlich vom Quartier ab. Aber die meisten in Tims Klasse nahmen privaten Nachhilfeunterricht», sagt Tims Mutter, von Beruf Ärztin. Sein Vater, Historiker, nickt: «Da entsteht ein wahnsinniger Druck. Tim wollte dann auch, klar.»
Ein frappanter Wunsch, den ihm seine Eltern aber nicht abschlagen mochten. Dabei ist Tim (12) in einer komfortablen Lage: Als Sohn von Akademikern passiert er das Öhr fürs Gymnasium viel eher als ein Arbeiterkind. Nur sechs Prozent der Studierenden stammen aus bildungsfernen Elternhäusern, ein Positionswechsel vom Tellerwäscherkind zum Millionär ist in der Schweiz so wahrscheinlich wie das Blühen eines Bohnenstängels in der Wüste Gobi. Doktortitel vererben sich, wie Armut sich vererbt.
Warum unten unten bleibt, Blick , 14.3. von Ursula von Arx


Schulen verfestigen das Bestehende

Für die schlecht verteilten Chancen gibt es viele Gründe. Eltern, die selbst nicht lange zur Schule gingen, können ihre Kinder fachlich wenig unterstützen, für Nachhilfe fehlt das Geld. Sie neigen dazu, das Potenzial ihrer Kinder zu unterschätzen. Auch die Lehrer tun das, sowie die Kinder selbst – als wäre ihr Kopf nicht befugt für höhere Bildungssphären.
Schulen sind kaum Orte der Verheissung, die ihre selbstzweifelnden Besucher dazu animieren würden, über ihr Umfeld hinauszuwachsen. Eher verfestigen sie bestehende Nachteile und Privilegien.

Aber viele Eltern, die jetzt über Gymiprüfungsstress klagen, befördern ihn bewusst oder unbewusst. Der Umstand, dass Akademikerkinder in Scharen zur Nachhilfe rennen, hat Methode: Er schützt den bessergestellten Nachwuchs vor der Konkurrenz von unten. Oben bleibt oben.

Zukunft ist für alle da

Chancengleichheit jedoch ist sozialer Kitt. Wo er fehlt, wachsen Hoffnungslosigkeit, Elitenfeindlichkeit, Populismus und die Sozialausgaben.

Trotzdem stellt die jämmerlich geringe soziale Mobilität hierzulande keine Versuchung dar für akuten Tatendrang. Wo sind die wirbelschlagenden Politiker, Lehrer, Eltern, die Bildungschancen nicht weiter der Geburtslotterie überlassen wollen? Dazu notwendig wären ein liberal geschärfter Sachverstand sowie der Wunsch, die Zukunft gründlich zu verbessern – indem man allen eine gibt. Alles würde gut.

Ursula von Arx (50) ging mit Joannis ins Gymi. Er war Arbeiterkind, Grieche, Klassenbester – und der beste Kamerad, den man haben konnte. Von Arxschreibt jeden zweiten Monat im BLICK.


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