1. März 2018

Untaugliche Vorschläge zur Digitalisierung an den Schulen

Kürzlich stellte der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse seine Vision für eine Schuleder Zukunft vor. Kernpunkte darin sind die Stärkung der digitalen Technologie und ein individualisierter Unterricht in Deutsch und Mathematik. Im Folgenden sollen einzelne Punkte herausgehoben und zur Diskussion gestellt werden.
Untaugliche Vorschläge zur Digitalisierung an den Schulen, 1.3. von Urs Kalberer

Die Konstante der wirtschaftlichen Entwicklung sei der Wandel: „Morgen wird schon wieder alles anders sein.“ Dies gilt als Rechtfertigung für ein digitales Aufrüstungs-Programm, das die Schüler und Lehrer fit für den Wandel machen soll. Doch was soll diese Fokussierung auf den Wandel gerade zum jetzigen Zeitpunkt? Wir stecken ja nicht am Anfang der Digitalisierung – die läuft ja schon seit Jahrzehnten. In der Schule wird entsprechend schon lange Informatik unterrichtet und bereits die Vorgänger des Lehrplans 21 verlangten, dass digitale Geräte in unterschiedlichen Fächern angewendet werden. Da werden also jede Menge offener Türen eingerannt. Wenn sich das berufliche Umfeld als Folge der technologischen Entwicklung verändert, muss sich dann auch die Volksschule verändern? Deren Ziel ist ja die Bildung im umfassenden Sinn mit Langzeitwirkung. Wäre diese Anpassungsleistung nicht die vordringliche Aufgabe der Berufsschule? Muss wirklich jeder Schüler programmieren lernen, wie es unser Wirtschaftsdachverband mit Nachdruck fordert? Das wäre, wie wenn jeder Automobilist die Funktionsweise eines Motors verstehen müsste, um Auto fahren zu können.

Zukunft war schon immer unvorhersehbar
Die Wirtschaftsvertreter zitieren eine Aussage, wonach die Mehrzahl der jetzigen Kindergärtler in Berufen arbeiten wird, die es heute noch gar nicht gebe. Dies scheint massiv übertrieben. In der Schweiz gibt es momentan mehr als 180 Berufslehren (EFZ-Berufe). Davon ist die grosse Mehrheit auch in Zukunft unabdingbar. So werden wir weiterhin Köche, Coiffeure, Bankangestellte, Maurer, Metzger, Verkäufer, Lehrer, Gärtner, Schreiner, Pfleger und auch Informatiker benötigen. Es mag sein, dass sich diese Berufe durch den wachsenden Einfluss der Digitalisierung verändern, doch verschwinden werden sie nicht. Es ist auch nicht einzusehen, weshalb die Zukunft gerade jetzt und heute so unvorhersehbar zu sein scheint. Zukunft war schon immer so – nie konnten die Menschen wissen, was in 10 oder 20 Jahren sein würde. Es ist eine platte Übertreibung, so zu tun, als ob das heute anders sei und daraus überrissene Forderungen an die Schule zu stellen.

Gewiss, die Digitalisierung breitet sich in alle Lebensbereiche aus, alle Berufe sind davon betroffen. Die Frage lautet jedoch: Ist eine massive Ausdehnung der Anwendungen von digitalen Geräten an der Volksschule die passenden Antwort auf diese Herausforderung? Gerade hier hält uns die Forschung interessante Erkenntnisse bereit: Eine taiwanesische Metastudie verglich 110 Wirksamkeits-Studien von mobilen Geräten im Unterricht (Smartphone, Tablet, Laptop) zwischen 1993 und 2013, und konnte bloss eine moderate Wirkung nachweisen. Tom Vander Ark, der frühere Direktor der ICT-affinen Bill-und- Melinda-Gates-Stiftung, meint, es sei sehr schwierig mit überzeugenden Daten aufzuwarten. Die OECD kommt zum Schluss, dass sich in Ländern, die stark in Computertechnologie an Schulen investiert hatten, „keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft“ zeigen würden. Manche Studien weisen gar einen negativen Lerneffekt bei starker zeitlicher Inanspruchnahme von Computern nach. Angesichts der höchst unsicheren Datenlage scheint die offensive Strategie von Economiesuisse einige Risiken zu bergen. Wäre es deshalb nicht gewinnbringender, vorsichtiger zu sein? Oder in den Worten des Kulturpublizisten Konrad Liessmann: „Je mehr ich über den klassischen Weg gelernt habe, umso besser kann ich digitale Geräte nutzen“.

Individualisierter Unterricht in Schulsprache und Mathematik
Economiesuisse schlägt vor, die beiden Fächer Deutsch und Mathematik künftig in altersdurchmischten Lerngruppen auf individueller Basis zu unterrichten. Damit könne jeder Schüler bei seinem Lernstand abgeholt und optimal gefördert werden. Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie stellt in seiner bekannten Vergleichsstudie fest, dass gerade der Klassenunterricht eine hohe Wirkung erzielt im Vergleich zu individualisiertem, altersdurchmischtem und selbstorganisiertem Lernen. Das Lernen ist ein sozialer Prozess – gerade die Auseinandersetzung innerhalb einer Lerngruppe führt zu einem vertieften Verständnis, weil vermehrt Fragen, Kritik und gemeinsames Arbeiten möglich ist. 
Demgegenüber krankt der individualisierte Unterricht an einer problematischen Isolierung – jeder Schüler hat sein eigenes computergesteuertes Programm. Gleichzeitig garantiert der Einsatz von digitalen Geräten wie oben erwähnt noch keine besseren Schülerleistungen. Es ist eine Illusion zu glauben, der Lehrer könnte den Lernstand jedes Schülers exakt bestimmen und den Unterricht planen, ohne dass die stärksten Schüler demotiviert oder die schwächsten abgehängt werden. Eine doppelte Überforderung ist die Folge: Der Schüler ist überfordert mit der relativen Freiheit des individualisierten Unterrichts, aber auch die Lehrer sind überfordert, weil sie die Kontrolle über den Lernstand der einzelnen Schüler verlieren.

Ein letzter Kritikpunkt betrifft die angepriesene Kooperation zwischen privaten Unternehmen und den Schulen. So sollen vermehrt ausserschulische Hilfskräfte oder Experten ins Klassenzimmer geholt werden. Economiesuisse versteht sich damit als Türöffner für private Unternehmen, die in die Schule drängen. Wollen wir das? Dabei stellen sich weitere Fragen: Was können Private besser als die öffentliche Schule? Wer entscheidet, ob eine Firma Zugang zur örtlichen Schule erhält?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Vorschläge seitens der Wirtschaft wenig mit einer kritischen Analyse des Forschungsstandes zu tun haben. Zu oft werden Allgemeinplätze wie „lebenslanges Lernen“, „kontinuierlicher Wandel“ oder „Zukunftschancen“ unreflektiert mit der Schulwirklichkeit vermischt. Zu wenig Beachtung wird insbesondere der grundsätzlichen Differenz zwischen Bildung (Volksschule) und Ausbildung (Berufsschule) beigemessen. Damit wird eine sinnvolle Partnerschaft zwischen Schule und Wirtschaft unnötig strapaziert.



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