7. Mai 2018

Keine Tiger-Mom

Ich bin keine Tiger-Mom. Zwar zitiere ich oft Amy Chuas Buch «Die Mutter des Erfolgs»: «Ist’s beim nächsten Mal nicht perfekt, verbrenn’ ich deine Stofftiere.» Aber natürlich nicht im Ernst, sondern als Running Gag. Bis jetzt erledigen unsere Kinder zumindest die Hausaufgaben, wenn nicht immer topkonzentriert und makellos, so doch meist ohne Drill und Drohungen. Das ist eine ganze Menge, finde ich.
Wieviel Drill braucht ein Kind, Tages Anzeiger, Mamablog, 7.5. von Mirjam Oertli


Nur hie und da überkommen mich Bedenken: wenn sie zum Beispiel beim Einmaleins grad nicht die Beschleunigungsfähigkeit eines schnittigen Sportwagens zeigen. Oder wenn der anfängliche Enthusiasmus am Klavier nicht weiter reicht als bis «Alle meine Entlein» mit Schluckauf. Dann höre ich manchmal dieses leise Tiger-Knurren in mir und wundere mich, ob wir sie nicht mehr «pushen» müssten. Man weiss ja, der globale Wettbewerb…

Was reingepaukt wird…
Ohne Lernen klappts nicht mit dem Medizinstudium. Und ohne zu üben, wird niemand Konzertpianist. Selbst wenn sich unter den kindlichen Berufswünschen weder Medizinerin noch Musiker finden: Man hat eine elterliche Verantwortung, die Kleinen auf einen guten Weg zu führen. Was immer das heisst. Trotzdem: Ein bisschen ungut ist mir doch zumute, wenn ich mich bei oben geschilderten Gedanken ertappe.

Denn ist es nicht bloss eine schöne Illusion, zu glauben, erzieherischer Input ziehe stets den geplanten Output nach sich? Der US-amerikanische Essayist Adam Gopnik rezensierte im «The New Yorker» kürzlich einige Erziehungsbücher. Dabei stellte er genau die Haltung infrage, Kindheit als Kette von Ursachen zu sehen, die zu einem bestimmten Effekt führten. Also: Du tust dies, dann passiert das. Du lernst jetzt, dann bekommst du gute Noten. Mit guten Noten schaffst du den Übertritt. Auf der nächsten Stufe wirst du… Das liesse sich endlos weiterspinnen. Klingt ja sehr plausibel. Doch Ketten menschlicher Kausalität, so Gopnik, seien lang. Und in jedem Leben tauchten irgendwann negative Konsequenzen der Erziehung auf: wenn also das gedrillte Kind sich zum Beispiel auch als Erwachsener nur über Leistung definiert und depressiv wird. Oder der gepushte Teenager sein Instrument in die Ecke knallt und sich abwendet.

Spiel und Freude
Natürlich kann auch ein nicht zu Leistung gedrängtes Kind genau dieses Nichtdrängen den Eltern später vorhalten. Es wäre also wohl falsch, zu folgern, dass wir einfach gar nichts tun sollten. Vielmehr verstehe ich es so: Unser langfristiger Einfluss ist weniger kontrollierbar, als wir annehmen. Lohnenswerter als gedanklich stets in einer unbestimmten Zukunft zu schweben,  könnte daher der Blick auf die Gegenwart sein. Gopnik erwähnt dazu den russischen Philosophen Alexander Herzen, der sagte: «Wir glauben, der Zweck eines Kindes sei es, gross zu werden, denn schliesslich wird es ja gross. Dabei ist der Zweck eines Kindes, zu spielen, sich zu freuen, ein Kind zu sein.»

Kindern muss man das ja nicht zweimal sagen. Mir aber entgeht es zuweilen. Viele Momente des Spiels und der Freude sind meinen Kindern so wohl schon abhandengekommen, weil sie halt doch noch dieses, das oder jenes auf morgen zu erledigen, zu üben oder zu lernen hatten – und wir halt doch dafür sorgen wollten, sollten oder mussten (die Grenzen sind ja fliessend), dass sie es tun.

In der freien Zeit zeigt sich, was Freude macht
Natürlich muss, wer erzieht, hie und da die Zukunftsperspektive einnehmen. Und klar gibt es Dinge, wie etwa Hausaufgaben, die zu erledigen sind. Wenn nicht, um später erfolgreich zu sein, so doch zumindest, um morgen kein Problem zu haben. (Wenn es möglich ist, sie heute mit Spass zu machen: umso besser.)

Ich möchte also weder auf vorausschauendes Handeln verzichten noch die Verweigerung aller Pflichten propagieren. Aber gelegentlich abzuwägen zwischen «morgen» und «jetzt», der Pflicht und der Freude, dem x-ten Abfragen der Französisch-Wörtli und einem lustigen Spiel: Wäre so falsch wohl auch nicht. Zumal sich manchmal erst in freier Zeit zeigt, woran Kinder wirklich Freude haben, was sie tun, weil sie es tun wollen, und wobei sie vielleicht von selbst feststellen, dass es hier und jetzt Spass machen kann, sich Fähigkeiten anzueignen. Und zumal Alexander Herzens Zitat noch weitergeht: «Wenn wir uns nur auf das Ende des Prozesses konzentrieren, dann ist der Zweck des Lebens der Tod.» Ich fasse das als Einladung zum Versuch auf, den Moment mehr zu feiern – und sehe weiterhin von allzu viel Tiger-Momism ab.


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