9. März 2018

Chancengleichheit mittels Integration?

Die gegenwärtige Debatte über schulische Integration ist häufig auf die Separation von schulleistungsschwachen Schülern in Kleinklassen (sogenannte «Lernbehinderte») verengt. In diesen Klassen befanden sich in den vergangenen Jahren fast nur noch Ausländerkinder aus Familien mit geringem Bezug zu unserer Bildungsmentalität. Durch die Integration in Regelklassen sollen sich ihre Chancen auf Bildungs- und Berufszugänge verbessern. Aber die Fokussierung auf die Integration der Kleinklassenschüler reduziert die Problematik auf eine Detailfrage.
Der Mythos der gerechten schulischen Selektion, NZZ, 9.3. von Urs Haeberlin


Chancengleichheit durch die Schaffung von Integrationsklassen gilt als bildungspolitisch modern. Gemeint ist die Vorgabe von Quoten in Sekundarschulen, Gymnasien und Universitäten, die sich nach Geschlecht sowie sozialer und ethnischer Herkunft an den prozentualen Anteilen in der Bevölkerung orientieren. Bisher wurde kaum problematisiert, ob sich «Integration» mit «Chancengleichheit» überhaupt verträgt. Die Chancengleichheit-Idee entspricht einem Bildungswesen, in welchem mit fortschreitenden Schuljahren die Leistungsstarken von den Leistungsschwachen getrennt werden.

Unerquickliches Wettkampfklima
Bildungssoziologische Forschungen zeigen, dass das Ideal einer Selektion nach Begabung stets durch Merkmale wie soziale und ethnische Herkunft sowie Geschlecht verzerrt ist. Allein der Umzug von einer Region in eine andere kann die Chancen, beispielsweise auf den Übertritt ins Gymnasium, wesentlich verändern. Der Glaube an eine «wissenschaftlich objektive» Selektion nach Begabung ist zum grossen Teil Aberglaube. Dies gilt auch für den Glauben an die Herstellbarkeit von Chancengleichheit durch Integrationsklassen. Zwar hat die frühere Separation in Kleinklassen für einige Betroffene Chancen-Ungerechtigkeiten zementiert. Aber das generell durch Selektion separierende Schulsystem hat sich nach der Abschaffung dieser Klassen nicht integrativ verändert.

Die «Inklusionsromantik» einer oft praxisfernen pädagogischen Hochschulelite macht offenbar blind für das weiter vorherrschende separierende Selektionsprinzip der Schul- und Bildungstypen sowie der Berufe. Der Glaube an eine Verbesserung der Bildungs- und Berufschancen für immer mehr Jugendliche und Erwachsene ist Augenwischerei. Arbeitsplätze in der oberen Hälfte der Berufshierarchie werden nicht beliebig zunehmen. Erfolgreiche soziale Aufsteiger werden folglich Absteiger aus bisher privilegierten Bevölkerungssegmenten produzieren.

So verschärft sich der Run auf schulische und berufliche Chancen. Verlierer werden Opfer dieses fatalen Wettkampfklimas. Die traditionell privilegierten Familien werden höchst selten wünschen, dass ihre Nachkommen zu sozialen Absteigern werden. Deshalb wirken sie dem mit der Finanzierung von Nachhilfeunterricht und dem Privatschulbesuch entgegen.
Viele Eltern aus der Mittel- und der Oberschicht sind heute schon ab dem Kindergarten auf den zukünftigen Wettkampf fixiert. Die damit einhergehende Entwertung von «integrierten» Schulschwachen wird in Kauf genommen. So ist zu befürchten, dass wir infolge der bildungspolitischen Vermischung von Integration mit Chancengleichheit unmerklich weiter in die Separation der Erfolgreichen von den Erfolglosen abdriften. Versagende werden ihre Entwertung in Zukunft eher noch mehr spüren als bisher.

Triebfeder Akademisierungsboom
Zwar loben Politiker das schweizerische duale Bildungssystem und damit die Bedeutung der Berufslehren. Aber ein grosser Teil der Bevölkerung hat sich den importierten Glauben an Akademisierung angeeignet. Beispielsweise scheint sich im Kanton Zürich die Tendenz zum Übertritt ins Gymnasium nach der 6. Primarklasse laufend zu verstärken. Dies, obschon es in den siebziger Jahren den Trend zu einer Reform gegeben hatte, welche das Langzeitgymnasium durch die Orientierungsstufe auf Sekundarstufe I ersetzen wollte. Der damaligen Reformtendenz wird nicht einmal dadurch Rechnung getragen, dass in der Sekundarschule die gleichen Lehrbücher benützt werden müssen wie im Progymnasium.
Wer aus der Sekundarschule die Aufnahmeprüfung für das Kurzzeitgymnasium bestanden hat, beginnt dieses zusammen mit Schülern des Progymnasiums, dessen Lehrbuchinhalte vorausgesetzt werden. Es erwartet sie eine Probezeit, in der sie gegenüber den «Langzeitgymnasiasten» durch die Lehrbuchdifferenz (z. B. Vokabular in den Fremdsprachen) benachteiligt sind.

Wen wundert’s, dass vermögende Eltern ihre Kinder nicht nur vor der Aufnahmeprüfung, sondern auch während der Probezeit samstags, ja gar sonntags in Nachhilfekurse schicken, um die fehlenden Inhalte nachholen zu lassen? Angesichts der durch die Presse bekanntgewordenen Ausfallquoten nach der Probezeit im Kurzzeitgymnasium ist der derzeitige Run auf das Langzeitgymnasium durchaus nachvollziehbar. Einige ältere Leser erinnern sich vielleicht, dass in früheren Zeiten in Zürich die «Langzeitgymnasiasten» (damaliges Real- und Literargymnasium) von den «Kurzzeitgymnasiasten» (damalige Oberrrealschule) getrennt waren und Lehrmittelfreiheit keine Probleme verursachte.

Maturitätsdünkel
Der Drang vieler Eltern zur frühen Selektion ihrer Kinder ist auch dadurch verstärkt worden, dass für immer mehr Berufsausbildungen eine Maturität verlangt wird. Ausserdem haben Zuzüger aus Nachbarländern mit traditionell elitärem Bildungsdünkel den Drang zum Langzeitgymnasium importiert. So ist bekannt, dass es in Deutschland seit je eine breite Bildungsschicht gibt, die mit allen Mitteln den Übertritt ihrer Kinder aus dem vierten (!) Grundschuljahr in ein achtjähriges Gymnasium anstrebt.

Auf die Zunahme des Maturitätsfimmels hat die Schweizer Bildungspolitik mit der Schaffung von bald unzähligen Fachmaturitäten und Berufsmaturitäten reagiert. Seither grenzt sich auch in den Berufslehren die Gruppe der schulisch «Weiterkommenden» von jener der schulisch «Stehenbleibenden» ab. Einerseits gibt es nun ein Angebot von Chancen für vorerst Gescheiterte. Andererseits aber werden Mutlose und gleichwohl Scheiternde in ihrem Selbstbild als Versager verstärkt.

Ein Teil der früheren praxisorientierten Berufs- und Fachschulen hat das bildungspolitische Klima dafür genutzt, den als höherwertig betrachteten Status einer Hochschule zu erkämpfen. Damit erfordert nun die Aufnahme ein Maturitätszeugnis. Die Bildungspolitiker unterstützten den Wandel zu Hochschulen in der Meinung, dass dadurch die Berufsausbildung noch besser werde, und mit der Forderung, dass sie sich aber deutlich von einer akademischen Universitätsausbildung unterscheiden müsse.

Inzwischen zeichnet sich ab, dass sich einige Fachhochschulen den wissenschaftlichen Ansprüchen einer Universität anbiedern und sich von einer Berufsbildung mit paxisnahen Lehr- und Forschungsinhalten entfernen. Ihre Forschung unterscheidet sich oft nicht von universitärer Grundlagenforschung. Der Berufspraxis dienende Forschung sollte eigentlich Handreichungen entwickeln, welche die Berufsarbeit verbessern und erleichtern. Bei der Auswahl von Ausbildungs- und Forschungspersonal scheint oft die theoretisch-akademische Qualifikation wichtiger zu sein als Kompetenzen in den Berufsfeldern, für welche die Fachhochschule ausbilden muss.

Man findet beispielsweise pädagogische Hochschulen, die Personen anstellen, die wenig oder überhaupt keine Unterrichtserfahrung haben, oft nicht für den Lehrberuf ausgebildet sind und gelegentlich nicht einmal das schweizerische Schulsystem kennen. Für praxisbezogene Forschung, die für Lehrpersonen nützliche Unterrichtsleitfäden erarbeitet, braucht man doch wohl eher den Nachweis einer erfolgreichen und reflektierten Unterrichtspraxis als eine lange Liste von theorielastigen und mit unnötig kompliziertem Vokabular aufgeblasenen Sprachhülsen! Der falsch verstandene Akademisierungsschub in der Lehrerbildung dämmt den ausufernden Maturitätsglauben von Eltern natürlich nicht ein.
Kaum je wird auf ein für Insider offenes Geheimnis hingewiesen: Der Wandel der früheren Berufsdiplome zu akademischen Abschlüssen wurde nicht zuletzt von Berufsverbänden vorangetrieben. Davon kann man sich im heutigen Wertesystem eben höhere Löhne versprechen. Hinter dem Trend zur Akademisierung versteckt sich oft ein berufspolitischer Kampf um finanzielle Vorteile durch Akademikerstatus. Als Gewinner sieht sich, wer einen möglichst «hohen» akademischen Berufsabschluss erreicht, als Verlierer, wem dieser Aufstieg nicht vergönnt ist.

Zeitgeistresistente Lehrer
All dies hat zur Pervertierung der Integrationsidee zur Separationsrealität beigetragen. Es ist umso erfreulicher, dass es viele Lehrerinnen und Lehrer gibt, die vom Akademisierungsboom unberührt bleiben und sich für eine von Materialismus freie pädagogische Gestaltung des Unterrichts engagieren. Viele unterrichten trotz Gegenströmungen mit einer auf Pestalozzi zurückgehenden pädagogischen Haltung. Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass es weiterhin Lehrpersonen geben wird, die ihre Prioritäten unbeeindruckt vom Zeitgeist setzen: den Kindern und Jugendlichen Sinnvolles vermitteln, sie echte Bildung erfahren lassen und ein Gefühl des Wohlseins in einer Gemeinschaft von Leistungsstarken und Leistungsschwachen wecken!

Urs Haeberlin war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Heilpädagogik an der Universität Freiburg (Schweiz) und Direktor des Heilpädagogischen Instituts dieser Universität. Er hat während 25 Jahren zahlreiche Forschungsprojekte zu Fragen von Integration und Separation geleitet.


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