11. März 2018

Spätere Selektion wünschenswert

Jetzt heisst es: lernen, abliefern, zittern. Am Montag finden im Kanton Zürich die Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium statt. Hunderte Buben und Mädchen versuchen, den Sprung an die Mittelschule zu schaffen – und damit den Sprung in eine goldene Zukunft. So denken zumindest viele Mütter und Väter. Gerade gut situierte Eltern sehen ihren Nachwuchs gerne am Gymnasium. Dafür ist ihnen selbst Bildungsdoping in Form von teuren Vorbereitungskursen recht.
Ein neues Auswahlsystem könnte das Problem der ungerechten Zuteilung ans Gymnasium verbessern, Bild: Gaetan Bally
Fördern Lehrer die falschen Kinder? Schweiz am Wochenende, 10.3. von Yannick Nock



An der Goldküste schreibt mittlerweile jedes dritte Kind die Gymi-Aufnahmeprüfung. Am Zürichberg ist es sogar jedes Zweite. Die nationale Maturitätsquote liegt bei 20,8 Prozent. Dabei sind Kinder aus gut situierten Verhältnissen nicht klüger, nur die Voraussetzungen sind andere. Das Ergebnis: Nicht die begabtesten Schüler gehen ans Gymnasium, sondern jene aus privilegierten Familien.

Eine neue, bisher unveröffentlichte Studie des Schweizerischen Nationalfonds hält nun eine Lösung für das Dilemma bereit. Entscheidend sei der Zeitpunkt des Übertritts in eine höhere Stufe. «Je früher die Schüler separiert werden, desto eher werden die falschen ausgesucht», heisst es in der Studie. Besonders betroffen sind Kantone mit Langzeitgymnasium, da sie früher eine Auswahl treffen müssen. Doch auch beim Übertritt in die Oberstufe sind die Probleme die gleichen. Wer Kinder nach sechs Schuljahren in Real-, Sek- und Gymischüler aufteilt, begehe öfter Fehler, heisst es. Fehler, welche die Schüler ein Leben lang verfolgen, denn nur die wenigsten holen einen höheren Abschluss nach.

Lehrer mit verzerrtem Blick
Für Studien-Autorin Katharina Maag Merki ist deshalb klar: «Die Selektion findet zu früh statt.» Als Professorin für Theorie und Empirie schulischer Bildungsprozesse an der Universität Zürich beschäftigt sich Maag Merki schon länger mit dem Phänomen. Nach sechs Schuljahren sei meistens nicht die Leistung das entscheidende Kriterium. Lehrer würden einer sozialen Verzerrung unterliegen. «Kinder aus bildungsfernen Familien werden bei gleicher Leistung oft schlechter benotet», sagt sie. Das passiere unbewusst. Die Lehrer glaubten, dass die Eltern ihren Nachwuchs am Gymnasium nicht ausreichend unterstützen könnten – und die Kinder deswegen ohnehin scheitern würden.

Doch nicht nur die Lehrer sorgen für eine Verzerrung. Auch die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm machte die Beobachtung, dass Büezer-Familien die akademische Welt meist fremd ist und sie die Bildungsversessenheit der oberen Schichten ablehnen würden. Ihren Nachwuchs hielten sie deshalb vom Gymnasium fern. Maag Merki nennt ein weiteres Kriterium: «Der Weg an die Mittelschule ist für die Familie ein finanzielles Risiko.» Die Jugendlichen blieben länger zu Hause als bei einer Lehre. Zudem sei nicht klar, ob sie dem Druck standhalten. Wenn die Kinder nach einem Jahr durchfallen, herrsche das Gefühl vor, Zeit und Geld verloren zu haben.

Wie es die Skandinavier machen
Die Professorin plädiert deshalb für eine deutlich spätere Selektion, am besten erst nach neun Jahren. Einerseits könnten die Jugendlichen ihre Leistung dann besser einschätzen und mitentscheiden. Andererseits seien die Eltern offener für die Wünsche ihrer Kinder.


Kritiker sehen in der Verzögerung allerdings eine Gefahr: Begabte Kinder würden so erst viel zu spät entdeckt und gefördert, da die Klassen komplett durchmischt bleiben. Gute wie schlechte Schüler sitzen jahrelang Pult an Pult. Maag Merki sieht darin kein Problem: «Förderung hat nichts mit Selektion zu tun.» Anstatt Kinder in Gruppen einzuteilen, sollten sie individuell unterstützt werden – und das schon vor der Einschulung. «Die Schweiz hängt in der Frühförderung hinterher.» Einige skandinavische Länder würden es vormachen: Schon vor dem Kindergarten werden die Kleinen spielerisch unterstützt. Ausserdem teilen Schulen die Kinder nicht nach sechs, sondern erst nach neun Jahren in verschiedene Stufen auf – manchmal noch später. «Das ist ein besseres System als in der Schweiz», sagt sie.

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